Seit genau zwei Jahrzehnten regiert die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, abgekürzt AKP, die Türkei. 2001 aus den Überresten der verbotenen „Tugendpartei“ mit Schützenhilfe des Predigers Fethullah Gülen gegründet, eroberte die „Adalet ve Kalkinma Partisi“ im November 2002 auf Anhieb die Mehrheit in der Großen Nationalversammlung, dem türkischen Parlament.
Außer ihr nahm damals nur die kemalistische „Republikanische Volkspartei“ (CHP) mit 19,4 Prozent die Zehn-Prozent-Hürde. Die Wahl war eine Abrechnung mit der alten politischen Klasse, eine Misstrauenserklärung der Mehrheit gegen die Erben Atatürks. Deren Gesellschaftspolitik hatte das Land gespalten; deren Wirtschaftspolitik hatte es ruiniert.
Die Türkei stärker geprägt als jeder Vorgänger
Alle Hoffnung ruhte damals auf einem Mann, der nach einer Geld- und Gefängnisstrafe überhaupt kein öffentliches Amt übernehmen durfte. Seine Schuld bestand darin, als Bürgermeister von Istanbul ein islamistisches Gedicht rezitiert zu haben: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir steigen, bis wir am Ziel sind. Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln sind Helme, die Moscheen sind unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten.“ Der Mann, der nach seinem fulminanten Wahlsieg zusehen musste, wie seine Freunde in Ankara eine Regierung ohne ihn bildeten, heißt Recep Tayyip Erdoğan.
Abdullah Gül wurde 2002 an seiner Stelle Regierungschef. Bis die Verfassung geradegebogen war und Erdoğan das Amt am 11. März 2003 übernehmen konnte. Im kommenden Jahr, wenn die Türkische Republik ihr hundertjähriges Bestehen feiert, kann Erdoğan dann zwei Jahrzehnte seiner persönlichen Macht feiern – so hofft er. Dann wird er (zunächst als Premier, dann als Präsident) die Türkei stärker verändert und geprägt haben als jeder seiner Vorgänger, wird Mustafa Kemal Atatürk überwunden und übertroffen haben – so glaubt er.
Recep Tayyip Erdoğan trat 2002 nicht an, um das System fortzusetzen, sondern um es zu überwinden: Er sah sich als Antwort der frommen, muslimischen Türken auf die permanente Kulturrevolution einer verwestlichten, laizistischen Elite. Doch der einstige Underdog, dessen Vater ein armer Küstenschiffer am Bosporus, im Istanbuler Hafenviertel Kasimpaşa, war, untergrub zwar das System, doch das System untergrub auch seine Visionen und Pläne.
Er konnte sich immer auf die Massen verlassen
Weil die AKP das Wahlrecht reformieren und einen der Ihren zum Präsidenten wählen wollte, drohten hohe Militärs ganz offen mit einem Putsch. Keine leere Drohung angesichts der türkischen Zeitgeschichte, in der die Generäle als Hüter des Kemalismus mehrfach die Notbremse gezogen hatten, wenn die Demokratie allzu religiöse Politiker nach ganz oben spülte. Erdoğan setzte im Ringen mit den Militärs auf vorgezogene Neuwahlen und gewann sie im Juli 2007 mit 46,6 Prozent klar. Gegen die so gedemütigte Generalität setzte er seinen Vertrauten Gül im August 2007 als Staatspräsidenten durch.
Ein Jahr später beriet das Verfassungsgericht – ebenfalls eine Hochburg des laizistisch-nationalistischen Kemalismus – ein völliges Verbot der AKP: Vorgeworfen wurden dem religiösen Wahlsieger Verstöße gegen die laizistischen Prinzipien der Verfassung. Erdoğans AKP gewann auch dieses Ringen, wenngleich nur um Haaresbreite.
Immer waren es die Massen, auf die sich die AKP bei der Eroberung und Festigung ihrer Macht – gegen hohe Generäle und Richter – verlassen konnte. Immer waren es Wahlen, die den Ausweg aus dem Machtkampf wiesen: 2011 errang die AKP 49,8 Prozent der Stimmen, im November 2015 wiederum 49,5 Prozent, 2018 immerhin noch 42,6 Prozent.
Berufsverbote, Verurteilungen und Verhaftungen
Heute jedoch besitzt und benutzt Erdoğan genau jenes System, das ihn (und das er) so lange bekämpft hat. Politische Gegner und kritische Journalisten müssen mediale Hetzkampagnen, Berufsverbote, Verurteilungen und Verhaftungen fürchten. Mit den Großen unter seinen einstigen Vertrauten hat er vor Jahren gebrochen: sogar mit Abdullah Gül, der für ihn zunächst Ministerpräsident, dann Außenminister und schließlich Staatspräsident geworden war, mit seinem Förderer Fethullah Gülen, dessen Bewegung in der Türkei heute als Terrororganisation eingestuft ist und der im Exil in Pennsylvania sitzt, ebenso mit Ahmet Davutoğlu, dem Architekten seiner neo-osmanischen Außenpolitik, der für ihn als Außenminister, Ministerpräsident und Parteichef amtierte.
Je stärker sich Erdoğan auf den reinen Machterhalt fokussierte, desto mehr alte Weggefährten verlor oder vertrieb er. Während Nepotismus und Korruption wuchsen, ging das weltanschauliche Profil der AKP langsam verloren. Aus der Partei der Kleinen und Entrechteten wurde eine Partei der Mächtigen und Rücksichtslosen. Er selbst repräsentiert nun den „tiefen Staat“, der ihn einst verfolgte.
Kämpfte die AKP zunächst gegen die Diskriminierung der Religiösen, etwa im längst legendären Streit um das Kopftuch an Behörden, Schulen und Universitäten, so setzt sie längst auf eine Islamisierung in der Bildungspolitik. Die immer noch bunte Medienlandschaft ist mit der aggressiven Polarisierung, wie sie zwischen kemalistischen und islamistischen Medien noch vor 15 Jahren herrschte, nicht mehr vergleichbar. Der Ausgleich mit den Kurden ist Geschichte; Erdoğan hat Atatürks Nationalismus einfach adaptiert.
EU-Beitritt in unerreichbarer Ferne
Der Beitritt zur Europäischen Union, den die AKP 2002 zu einer ihrer zentralen Prioritäten erklärte, ist in unerreichbare Ferne gerückt. Die offiziellen „Fortschrittsberichte“ der EU-Kommission berichten seit etlichen Jahren nur mehr Rückschritte. Als Präsident hat Erdoğan die EU-Annäherung längst von seiner Agenda gestrichen.
Von der auf Freundschaft und Kooperation ausgerichteten Nachbarschaftspolitik ist wenig geblieben: Erdoğans Annäherungsversuche an Armenien, Zypern, Griechenland und Israel waren nicht nachhaltig, sondern wichen rasch einem feindseligen Ton. Erdoğans Versuch, sich im „Arabischen Frühling“ zur Leitfigur der arabischen Straße gegen säkulare Tyrannen wie Hosni Mubarak in Kairo und Bashar al-Assad in Damaskus aufzuschwingen, scheiterte ebenso wie der „Arabische Frühling“ insgesamt. Die EU-Beitrittsverhandlungen liegen auf Eis. In der NATO ist Ankara zum unsicheren Kantonisten geworden. Selbst die ambitionierte Mittlerrolle Ankaras zwischen den Kriegsgegnern Moskau und Kiew brachte außer dem respektablen Getreide-Deal bislang keinerlei Früchte.
Die eigentliche Achillesferse der AKP jedoch ist die Wirtschaft: 2002 stieg Erdoğans Partei unter anderem deshalb kometenhaft auf, weil die Kemalisten das Land wirtschaftlich an die Wand gefahren hatten. In den Folgejahren trieb das türkische Wirtschaftswunder der regierenden AKP die begeisterten Massen zu. Der Arbeitsmarkt wurde liberalisiert, Milliarden in den Ausbau der Infrastruktur gepumpt. Jetzt aber liegt die Ökonomie darnieder, die Türkische Lira ist am Boden und eine Erholung ist nicht in Sicht.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.