Anfang Februar meldete sich eine Mitarbeiterin der Sparkasse Göttingen bei mir und erklärte, dass eine Bank in Großbritannien meine Überweisung von 150 Euro nach Syrien nicht annehmen wolle. Die US-Sanktionen gegen Syrien und Geldwäschebestimmungen würden dies nicht erlauben. Dieser Betrag war eine Spende für notleidende Kinder in Nordsyrien. Menschen, beispielsweise aus Syrien, die aus dem Ausland ihre Angehörigen unterstützen wollen, haben immer mehr Schwierigkeiten, dies zu tun. Die westlichen Sanktionen machen dies nahezu unmöglich. Währenddessen erhält die syrisch-islamistische Opposition ganz legal Millionen von der deutschen Bundesregierung. Mit Hilfe dieser Opposition wollte der Westen einen Regimewechsel in Syrien herbeiführen.
Das ist nun gescheitert. Nicht nur, weil der brutale Diktator Assad mit allen Mitteln vom Iran oder Russland unterstützt wird, sondern auch, weil die vom Westen über die Türkei unterhaltene Opposition der Bevölkerung bisher keine Alternative zu Baschar al-Assad bieten konnte und kann. Denn diese sind in der Regel radikale Islamisten, die eine Art islamisches Scharia-Rechtssystem in Syrien installieren wollen.
Die Türkei sympathisiert mit dem IS
Gerade in diesen Tagen wurde im Nordwesten des Landes der Anführer des „Islamischen Staates“ (IS) Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraschi bei einem Einsatz der US-Spezialkräfte getötet. Die Zentrale des meistgesuchten Mannes der Welt lag wenige hundert Meter von Basen der syrischen und vom NATO-Land Türkei unterstützten Milizen. In der Nähe befinden sich außerdem Militärstützpunkte des türkischen Militärs. Zudem wurde 2019 in der Gegend auch Abu Bakr al-Baghdadi, Gründer und Führer des IS, getötet. Ist es ein Zufall, dass sich nahezu alle Köpfe der syrischen Radikalislamisten im türkisch besetzten Gebieten Syriens aufhalten? Nein, es ist kein Zufall. Die Türkei und die von ihr unterstützte Opposition sympathisiert mit dem IS. Sie alle verbindet eine gemeinsame Ideologie: der politische Islam.
Die Lage in Syrien entwickelt sich mehr und mehr zu einem dramatischen Chaos. Bisher hat dieses Vorgehen nur Assads Regime und die syrischen Islamisten gestärkt. Und zwar auf Kosten der demokratischen Opposition und der gesamten Zivilbevölkerung. Es war ein fataler Fehler, syrische Islamisten über die Türkei mit Geld und Waffen zu versorgen. Eine friedliche, nicht von Islamisten angeführte Opposition hätte wohl bessere Chancen gehabt, eine Änderung oder konkrete Reformen in Syrien herbeizuführen. Auch die drastischen westlichen Sanktionen gegen Syrien werden vermutlich zu keinem Regimewechsel führen.
Die humanitäre Lage in Syrien ist heute bedrückend geworden: Die Menschen leiden unter Armut, Arbeitslosigkeit und Hunger und es ist unmöglich, selbst die Grundbedürfnisse zu decken. Das Bildungsniveau wurde weitgehend zerstört, ebenso der Gesundheitssektor.. „Mich berührt es zutiefst, wenn ich Kinder in Müllcontainern nach Nahrung oder verwertbaren Sachen suchen sehe. Das ist eine Folge der Sanktionen, die ich aufs Schärfste verurteile. Die Corona-Pandemie hat darüber hinaus zu einer weiteren Verschlechterung der humanitären Lage beigetragen“, sagt der in Damaskus geborene und in Wien wirkende syrisch-melkitische Priester Hanna Ghoneim dieser Zeitung.
Die ganze Komplexität der internationalen Sanktionsmechanismen
Das Beispiel Syrien zeigt die ganze Komplexität der internationalen Sanktionsmechanismen. Sanktionen können gravierende humanitäre Folgen haben. Auch die Irak-Sanktionen in den 1990er Jahren bestätigten das. Damals lösten die US-Sanktionen einen großen Mangel an Grundnahrungsmitteln und medizinischer Versorgung aus. Dies führte wiederum zu einer extrem hohen Kindersterblichkeit. In der Regel passen sich die Machthaber der Situation an und können sogar von den verhängten Sanktionen profitieren, wenn sie die unvermeidlich auftretenden Schwarzmarktaktivitäten kontrollieren. Dann treffen die Sanktionen vor allem die notleidende Zivilbevölkerung, und zwar in voller Wucht. Häufig provozieren Sanktionen Verhaltensänderungen in die entgegengesetzte Richtung und erzeugen eine Wagenburgmentalität auf Seiten der Regierungen, gegen welche die Sanktionen gerichtet sind. Sie spielen Diktatoren in die Hände und lenken vom eigenen wirtschaftlichen Missmanagement ab. Es führt auch dazu, dass die Bevölkerung nicht mehr gegen die Diktatur protestiert, sondern gegen die Sanktionen. Es kommt also zu keinem Regimewechsel, sondern zu mehr Solidarität der Bevölkerung mit den jeweiligen Diktatoren.
Spätestens nach den Erfahrungen in Afghanistan sollte der Westen auch im Falle Syriens dringend über einen Politikwechsel im Umgang mit der Lage in Syrien nachdenken und nach einer Lösung suchen, um dem Land aus der Sackgasse zu helfen.
Ein „Weiter so“ darf es in Syrien nicht mehr geben.
Der Autor, promovierter Historiker, ist Referent für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten der Gesellschaft für bedrohte Völker.
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