Um es vorweg zu sagen: Die Pille ist nicht die Ursache des Geburtenrückgangs. Der demographische Wandel hat in Deutschland und Europa bereits mehr als ein halbes Jahrhundert vorher eingesetzt. Zur Zeit Bismarcks lag die Geburtenzahl bei rund fünf Kindern pro Frau. Zeitgleich mit der Einführung der Sozialgesetzgebung (Altersvorsorge, Unfall- und Krankenversicherung) begann der demographische Sinkflug. Ereignisse wie der erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, die Diktatur der Nazis, der zweite Weltkrieg und schließlich das Wirtschaftswunder beeinflussten das generative Verhalten in Europa zwar unterschiedlich stark, aber doch so, dass der Sinkflug sich allgemein und überall fortsetzte und bis zur Einführung der Pille Anfang der sechziger Jahre die Geburtenrate auf zweieinhalb Kinder pro Frau sank. Der sogenannte Pillenknick verschärfte die Tendenz nur.
Erst wertebetäubend, dann wertetötend
Diese schärfere Tendenz führte zu einer Bevölkerungszäsur um das Jahr 1965. Seither lag für Jahrzehnte die Zahl der Geburten in den meisten Ländern Europas unter der des Vorjahres, in Belgien schon ab 1960, in Österreich ab 1964, in Deutschland, der Schweiz, Großbritannien, den Niederlanden, Italien und Spanien ab 1965, in Skandinavien ab 1967, in Frankreich ab 1972. 1973 dann unterschritt die Fertilität den Grenzwert der Bestandserhaltung, der bei 2,1 Kindern pro Frau liegt. Ab da setzte die Veralterung beziehungsweise Vergreisung Europas ein, in Deutschland sank die Geburtenrate dauerhaft auf 1,3 bis 1,5. Es fehlen die Kinder. Und die Zuwanderung kann das fehlende Drittel nicht kompensieren - von den kulturellen und zivilisatorischen Schwierigkeiten, die mit einwandern, mal abgesehen.
Im Bewusstsein der Europäer und insbesondere der Deutschen wirkte die Pille zunächst wertebetäubend, schließlich wertetötend. Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen Liebe und Leben, zwischen Pille und Einstellung zum Leben, zwischen kontrollierbarer Empfängnisregelung und Leben mit Natur, was nicht heißt Leben wie ein Tier. Echte Demographen wie Herwig Birg oder Gerard-Francois Dumont sehen in der Fruchtbarkeit den wichtigsten demographischen Faktor. Fertilität ist aber nicht nur ein demographischer Faktor - neben Mortalität und Migration -, sie spiegelt auch am klarsten die Einstellung zum Leben, mithin persönliche Wertvorstellungen wider.
Die Zahl der Kinderlosen steigt
Das wird von Zahlen nicht immer genau, aber doch tendenziell reflektiert. Die Zahl der zeitlebens Kinderlosen in Deutschland zum Beispiel zeigt den Wertewandel demographisch an. Seit dem Jahrgang der 1940 Geborenen steigt die Zahl der Kinderlosen. Bei den Frauen waren es 10,6 Prozent, beim Jahrgang 1950 schon 15,8 und beim Jahrgang 1965 bereits 32,1 Prozent. Bei Männern sind es meistens etwas mehr. Parallel dazu sank der Anteil der Frauen mit zeitlebens einem Kind von 26,4 (1940) auf 17,6 Prozent (1965). Deutschland ist das Land mit den prozentual meisten Kinderlosen auf der Welt. Hier sind wir seit Jahrzehnten Dauerweltmeister. Bei zwei Kindern veränderte sich die Zahl nur leicht von 34,1 auf 31,2 Prozent. Zwei Kinder sind die Wunschvorstellung der meisten Paare in Deutschland. Wenn die Menschen überhaupt eine Familie gründen, haben sie beinah doppelt so häufig zwei Kinder als eines. Dass die Geburtenrate mit rund 1,4 Kindern so stark von der Zwei-Kinder-Familie abweicht, liegt an dem hohen und wachsenden Anteil der Kinderlosen. Das ist in Italien, Spanien und Griechenland, Ländern mit noch niedrigerer Geburtenrate als Deutschland, anders. Dort sind die Ein-Kind-Familien prozentual häufiger. Ähnlich ist es bei Mehrkinderfamilien. Bei drei Kindern ging der Anteil in Deutschland von 18,5 auf 11,1 Prozent deutlich zurück. Dass der Anteil der Familien mit vier und mehr Kindern nur leicht abnahm, hängt mit der Migration zusammen. Schon Anfang der neunziger Jahre hatten 42 Prozent der Kinder, die als vierte oder weitere Kinder geboren wurden, ausländische Eltern (siehe zu den aktuellen Zahlen Seite 26).
Die Pille schwächt die Bindungsfähigkeit
Natürlich hängt das generative Verhalten nicht nur vom Kinderwunsch ab, sondern auch von den Lebensumständen. Und hier vor allem davon, ob man überhaupt einen Lebenspartner hat. Viele Umfragen, auch von Allensbach, bestätigen, dass dies neben wirtschaftlichen und finanziellen Gründen der Hauptgrund für die Kinderlosigkeit ist, die Betreuungsfrage kommt erst unter ferner liefen, so ab dem zehnten Grund. Die Partnerfrage wiederum ist auch eine Frage der Erwartungen. In der Konsumgesellschaft von heute muss es eben das Beste, also die Prinzessin oder der weiße Ritter sein. Aber die Ehe ist keine Gemeinschaft der Perfekten und Heiligen, sondern ein Weg zur Perfektion, zur vollen Menschlichkeit oder auch Heiligkeit. Ohne die Fähigkeit zur Vergebung kommt man da nicht weit.
"Wohl bewährt sich die Liebe in der Treue", schreibt Werner Bergengruen, "aber sie vollendet sich erst in der Vergebung" (Novelle "Der spanische Rosenstock"). Eine weitere, wesentliche Eigenschaft bei der Partnerfrage ist die Bindungsfähigkeit. Wer sich nicht darauf einlässt, auf Dauer mit diesem Menschen durchs Leben zu gehen, das heißt prinzipiell für immer, und nicht nur, "so lange es gut geht" (Spruch eines Pastors bei einer evangelischen Trauung in Norddeutschland), der setzt in das unbestellte Feld der Partnerschaft den Keim der Trennung. "Man kann nicht nur auf Probe leben, man kann nicht nur auf Probe sterben, man kann nicht nur auf Probe lieben, nur auf Probe und Zeit einen Menschen annehmen", sagte Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Deutschland 1980. Die Pille aber ist das Rezept zur Probe, sie schwächt die Bindungsfähigkeit, weil sie dem Augenblick den Vorrang vor der Dauer, der Probe den Vorzug vor der Gabe gibt und so den Partner nolens volens instrumentalisiert.
Ein uraltes Gleichgewicht wird zerstört
Das sind nicht nur demographische Fragen, wir stehen damit im Kreis von Kulturfragen. Hier nun hat die Pille zusammen mit dem Primat der kapitalistisch orientierten Wirtschaft einen Kulturbruch erzeugt, der fortwirkt. 1960 wurden in den Industriestaaten Umfragen bei jungen Müttern durchgeführt, die eben entbunden hatten. Die Frage lautete: Hatten Sie sich dieses Kind gewünscht? 50 bis 52 Prozent sagten Ja, 50 bis 48 Prozent nein. Die zweite Frage lautete: Wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten, dieses Kind zu verhindern, hätten sie es getan? 48 Prozent der Frauen sagten: Ja, ich hätte es verhindert. Aber es war da und in den allermeisten Fällen auch geliebt, wenigstens hingenommen. Die Natur hatte entschieden. Die Pille veränderte dieses Bewusstsein.
Pierre Chaunu beschreibt es in seinem Buch "Die verhütete Zukunft" so: "Der neuen Verhütungspraxis ist eine Tour de Force gelungen: Sie erlaubt es den Paaren nicht mehr, ihren tiefen Nachkommenschaftswunsch zu verwirklichen. Aus einem ganz einfachen Grund: Weil sie nämlich Fortpflanzung und Geschlechtlichkeit aus dem Hirnstamm in die Hirnrinde, vom Instinkt ins klare Bewusstsein rückt und damit ein uraltes Gleichgewicht zerstört. Wir haben nun einmal zwei Gehirne, so wie wir zwei Gedächtnisse haben. Indem Rhythmus und Tempo übersteigert, die orale Empfängnisverhütung zum Gegenstand überhitzter Kapital- und Gefühlsinvestitionen gemacht wurde, ist der Bruch und die Zerstörung eines lebensnotwendigen Gleichgewichts unserer Kultur ausgelöst worden."
Ein Kind zwingt dazu, an Morgen zu denken
Verhütet wurde immer. Aber bei der alten Verhütungspraxis blieb die Fruchtbarkeit meist im Bereich des Natürlichen. Mit der Verhütungsrevolution wurde "die Unfruchtbarkeit Bestandteil der Übernatur des Zivilisierten" (Chaunu). Die Einstellung gegenüber dem Leben erwirbt man sich zwischen dem vierten und fünften und zwischen dem zwölften und dreizehnten Lebensjahr und behält sie ein Leben lang. Ganzen Jahrgängen wurden in den sechziger und siebziger Jahren Angst vor dem Leben in die Hirnzellen gepumpt, zusammen mit der Lüge von einer großen (sexuellen) Befreiung. Die Folge: Abtreibungen und Sterilisationen. Ende 1978 gab es nicht weniger als 40 Millionen Sterilisierte im fortpflanzungsfähigen Alter - abgesehen davon, dass bei Frauen, die die Pille nehmen, die Durchschnittssterblichkeit 15 Jahre nach Einführung der Pille sechsmal höher lag (The Lancet, 8.10.1977).
Ein Kind zwingt dazu, an Morgen zu denken. Demographisch hat die Pille langfristig den Wandel und Niedergang nur beschleunigt. Schlimmer und wirkmächtiger aber ist der Kulturbruch. Das Denken in größeren Zeiträumen des Lebens wurde vernebelt, es galt fortan die flüchtige Lust des Augenblicks. Nichts gegen die Lust, aber wenn sie zum Sinnersatz wird und die Zukunft verhütet, ist das ein zivilisatorischer Rückschritt der Humanität.
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