Das Wort „Pandemie“ suggeriert, dass alle irgendwie betroffen sind; und tatsächlich handelt es sich bei der Corona-Krise um ein globales Phänomen. Gleichwohl hat die nun mehr als zweijährige Pandemie keine egalitäre Kraft: Sie fördert weder die Gleichheit noch wirkt sie einigend. Ganz im Gegenteil: Die Corona-Krise verstärkt die Ungleichheiten, wie es Papst Franziskus vor einem Jahr hellsichtig voraussagte.
Vulnerable Menschen blicken anders auf die Pandemie
Die offensichtlichste Ungleichheit ist die gesundheitliche: Viele haben keine oder keine nennenswerten Symptome, andere durchleiden dramatische Verläufe, und viele starben. Kein Wunder, dass vulnerablere Menschen einen anderen Blick auf die Pandemie und die mit ihr verbundenen Maßnahmen haben als gesundheitlich robustere. Während chronisch Kranke, Alte und Hochbetagte medizinisch gefährdeter sind, traf die Corona-Krise die junge Generation psychisch am härtesten. Der rasante Anstieg von Angst-, Ess- und Schlafstörungen, Depressionen und Suizidgedanken wird die Psychiater und Psychotherapeuten noch in Atem halten, wenn die virologische Bedrohung längst vorbei ist. Vielfach spiegeln sich die (durchaus nicht grundlosen) Ängste der Erwachsenen um Arbeitsplatz und finanzielle Sicherheiten in einer fundamentalen Verunsicherung der Kinder und Jugendlichen. Die Corona-Krise mit all ihren Facetten spaltet die Gesellschaft: nicht nur medizinisch und psychisch, sondern zunehmend auch weltanschaulich.
Vor diesem Hintergrund höchst unterschiedlicher Betroffenheiten wird der Wiederaufbau in der hoffentlich nahen Post-Corona-Ära zum ultimativen Stresstest: Woher nimmt eine faktisch wie mental gespaltene Gesellschaft die Kraft, gemeinsam die Ärmel aufzukrempeln, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu setzen, die Inflation einzudämmen, Arbeitsplätze zu schaffen und Innovationen zu wagen? Wo ist das einigende Ziel oder Ideal? Worin könnte eine zusammenführende Vision bestehen? Und wer weiß sie zu formulieren?
Die wirtschaftliche Kluft wird größer
Finanziell und wirtschaftlich wird es in jeder Gesellschaft einige wenige Krisengewinner und viele Verlierer geben. Dramatisch ist dieser Graben jedoch im globalen Vergleich. Nein, das liegt nicht nur daran, dass in Ländern wie Tschad, Kongo, Südsudan, Burundi, Jemen und Haiti weniger als fünf Prozent geimpft sind. Es liegt auch daran, dass in der Corona-Krise die Infrastruktur gegen Tuberkulose, HIV und Malaria in Afrika radikal zurückgefahren wurde, dass Grenzen geschlossen und der humanitäre Zugang zu vielen Regionen erschwert wurde. Mit mehr als einer halben Milliarde Menschen, die neu in die Armut gedrängt wurden, rechnen die Weltbank und die Weltgesundheitsorganisation WHO. 2021 stiegen die Nahrungsmittelpreise auf das höchste Niveau seit einem Jahrzehnt. 900 Millionen Menschen sind unterernährt – Tendenz steigend.
Ja, die Pandemie betrifft die gesamte Weltwirtschaft, aber die ökonomischen Turbulenzen in Europa und den USA verringern den Abstand zum globalen Süden nicht. Im Gegenteil: Die wirtschaftliche Kluft zwischen Industrieländern, Schwellenländern und Entwicklungsländern ist größer geworden. Nach zwei Jahrzehnten anhaltenden Rückgangs ist die extreme Armut in den Jahren 2020 und 2021 deutlich gewachsen. All das bleibt gewiss nicht ohne politische Folgen: Mit Not und Verzweiflung wachsen oft auch Gewalt, Verführbarkeit und die Suche nach Sündenböcken.
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