Seit 2007, dem Abgang von Wolfgang Schüssel, hat die ÖVP nicht weniger als fünf Parteichefs gehabt. Drei davon gingen als Spitzenkandidaten in Nationalratswahlen – reüssieren konnte nur einer: Sebastian Kurz. Er holte – nach zehn Jahren – für die ÖVP wieder Platz eins und die Kanzlerschaft. Das auf eine Ära angelegte Projekt einer „neuen Volkspartei“ endete indes bekanntlich nach nur vier Jahren: Ergebnis einer politmedialen Agitation sondergleichen, aber auch eigener Fehler und Schwächen.
Nicht auf die hören, die Abgrenzung zu Kurz fordern
Nun ist seit letztem Wochenende mit Karl Nehammer der sechste Mann in 15 Jahren an der Spitze der österreichischen Christdemokraten. 14 Jahre älter als Kurz, im Arbeitnehmerflügel (ÖAAB) der Partei sozialisiert, unter Kurz zunächst ÖVP-Generalsekretär, zuletzt Innenminister.
Von ihm wird erwartet, dass er die Partei wieder (s. o.) in ruhigere Gewässer führt, für Kontinuität und Stabilität sorgt. Das ist dem soliden, persönlich absolut integren Familienmenschen und ehemaligen Leutnant zuzutrauen. Aber das wird zu wenig sein. Wenn Nehammer klug ist, weiß er, dass er nicht auf die hören darf, die eine deutliche Abgrenzung zum „System Kurz“ und eine Rückkehr zur „guten, alten“ ÖVP fordern. Das sind meist jene, die mit der Christdemokratie wenig am Hut haben und für die die beste ÖVP jene ist, welche als kleinerer Regierungspartner der SPÖ die Kanzlerschaft sichert; zumindest so lange sich eine österreichische „Ampel“ nicht ausgeht.
Das, was Kurz eine „ordentliche Mitte-Rechts-Politik“ genannt hat, ist für die ÖVP unaufgebbar, will sie Platz eins halten (freilich hätte man sich schon von Kurz bei manchen Themen – zum Beispiel Pensionen, Privatisierungen – mehr Mut zu unpopulären Reformen gewünscht, den Schüssel noch aufbrachte).
Ob Nehammer ein weiteres Erfolgskapitel der ÖVP schreiben kann, erscheint zur Zeit durchaus fraglich – ausschließen sollte man es aber vorerst auch nicht.
Der Autor ist Redakteur der österreichischen Tageszeitung „Kurier“.
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