Für meinen Weg prägend war die Begegnung mit Pater Victrizius Berndt OFM Cap, dessen Religionsunterricht am Münchener Dante-Gymnasium in den für die spätere Berufsentscheidung prägenden Jahren der Oberstufe mir das Rüstzeug vermittelte, den familiär grundgelegten Glauben auch rational so zu durchdringen, dass ich meine Berufung zum Priesteramt erkennen konnte. Pater Victrizius Berndt war 1915 in Pomeisl zur Welt gekommen, in Waltsch/Valec aufgewachsen und 1933 in Prag in den Kapuzinerorden eingetreten, nahm als geweihter Diakon als Sanitätssoldat am Krieg teil und wurde am 1. November 1946 in Eichstätt zum Priester geweiht.
Übersteigerter Nationalismus
Ihm verdanke ich nicht nur den Zugang zur französischen Theologie und ein Verständnis von "katholisch-sein" im Sinne von "allumfassend", "nichts ausschließend", sondern auch die entscheidenden Einsichten zur Beurteilung unserer Herkunftsgeschichte: Die verhängnisvolle Weichenstellung war der übersteigerte Nationalismus, der seit dem frühen 19. Jahrhundert ganz Europa infizierte, latent vorhandene Differenzen und Spannungen verhärtete und in Feindseligkeit und völliges gegenseitiges Unverständnis und Misstrauen verkehrte. Dass auch die gemeinsame Zugehörigkeit zur Kirche, die gemeinsame Gebetssprache und gemeinsame Volksfrömmigkeit die Versuchung zum Nationalismus nicht aufhalten konnten, beschäftigt mich sehr.
Geschichte von Flucht und Vertreibung
Vor kurzem stieß ich im Zusammenhang mit der Erforschung der Geschichte der Weihnachtskrippe, deren "Wiege" vermutlich in Prag gestanden hat, auf eine erschütternde Selbsterkenntnis des sudetendeutschen Schriftstellers Otfried Preußler (1923 2013). Preußler hat uns nicht nur eine Fülle wunderbarer Kinder- und Jugendbücher, sondern mit der "Flucht nach Ägypten" auch seine eigene Verarbeitung von Flucht und Vertreibung in romanhafter Form geschenkt. Im Rückblick auf zahlreiche Besuche mit seiner Frau in der alten Heimat und die Entdeckung, dass die von ihm so geliebte und immer wieder in seinen Geschichten verarbeitete Krippenfrömmigkeit die deutschen und die tschechischen Böhmen zutiefst verbunden hätte, notiert er im Jahr 1999: "Auch in Eisenbrod, auch im von jeher tschechischen Städtchen Turnau trafen wir solche Krippen an wobei uns, zu unser beider Betroffenheit, jetzt erst aufgegangen ist, dass es zwischen den Weihnachtskrippen in den ursprünglich von Deutschen bewohnten Gebieten Nordböhmens und denen unserer tschechischen Nachbarn so gut wie keine Unterschiede gegeben hat. Was haben wir vormals eigentlich voneinander gewusst? Wir böhmischen Deutschen von ihnen, den tschechischen Böhmen und sie von uns? Müßige Frage, verpasste Gelegenheiten, vorbei, vorbei."
Wurzeln im Glauben
Aus alldem ergibt sich für mich die Aufgabe, die gemeinsamen Wurzeln im Glauben zu suchen, zu pflegen und mit Leben zu erfüllen. Der christliche Glaube, besonders in der Gestalt der katholischen Kirche, die wegen ihrer Internationalität gegenüber aller nationalistischen Vereinnahmung und politischen Instrumentalisierung am meisten gefeit ist, ist die beste Rassismus- und Nationalismus-Prophylaxe, die es gibt. Zu den Höhepunkten im Jahreskreis gehört für mich seit langem, das Patroziniumsfest in der Schlosskirche in Kladrau zu Mariä Himmelfahrt zu feiern, in Konzelebration mit den vom Bistum Pilsen bestellten Pfarrern, oder wie schon mehrmals mit dem Bischof von Pilsen. Im Glauben an den dreifaltigen Gott liegt nicht nur die Kraft zur Versöhnung angesichts einer von Unverständnis, Misstrauen und Schuld überschatteten Geschichte, sondern mehr noch die Grundlage für Völkerverständigung und Frieden in einem Europa der Regionen auf der Grundlage der Religion des Kreuzes.
Der Autor ist Bischof von Regensburg.
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