Christenverfolgung in Indien

Die Ideologie der Mörder Gandhis

In Indien nimmt die Gewalt gegen Christen zu. Doch der dahinterstehende Hindu-Nationalismus ist älter.
Karwoche in Indien
Foto: Channi Anand (AP) | Indiens Christen müssen viel Gewalt und Diskriminierung erdulden. Dennoch fühlen sich zahlreiche indigene zu ihnen hingezogen - was wiederum Hindu-Nationalisten ein Dorn im Auge ist.

Das bevölkerungreichste Land der Erde ist seit kurzem nicht mehr China – sondern Indien: Mit 1,4 Milliarden Menschen löste das südostasiatische Land das „Reich der Mitte“ Mitte April in puncto Einwohnerzahlen ab. Bald soll Indien zudem zur drittgrößten Volkswirtschaft avancieren, es ist gar von einem „indischen Jahrzehnt“ die Rede. Und seit Beginn des Ukraine-Kriegs wird Indien von Ost und West politisch und ökonomisch massiv umworben.

Doch dem vermeintlichen Fortschritt auf anderen Gebieten steht die konsequente Ausgrenzung von Christen und Muslimen gegenüber: Denn die Gewalt gegen Angehörige von religiösen Minderheiten hat in Indien seit Beginn des Jahres weiter zugenommen. Anfang Mai haben christliche Initiativen vor dem Obersten Gerichtshof der größten Demokratie der Erde eine unabhängige Beobachtungsstelle zur Überwachung von christenfeindlicher Gewalt gefordert. Ihr Appell erfolgte in einer Anhörung über eine Petition aus dem Jahr 2021 unter der Führung des Erzbischofs von Bangalore, Peter Machado. Die Initiatoren wollen auf dem Rechtsweg ein landesweites Vorgehen gegen die Attacken durchsetzen. Denn sie erleben seit Jahren, wie Angriffe auf die zwei Prozent Christen in viele Teilen Indiens zunehmen.

Mancherorts sind Christen regelrecht vogelfrei

Diese vollziehen sich meist vor den Augen der örtlichen Polizei, die dabei zusieht ohne einzugreifen: Plünderungen und Brandschatzungen von kirchlichen Gebäuden, Schändungen von Bibeln, Altären oder Friedhöfen, Lynchmorde an Geistlichen und immer wieder auch Vergewaltigungen von Ordensfrauen. Erzbischof Machado hatte jüngst sogar mit Blick auf Exzesse im nordöstlich gelegenen Bundesstaat Manipur vom „Wiederaufleben der Christenverfolgung“ gesprochen. Der Erzbischof und seine Mitstreiter, die Organisationen „Evangelical Fellowship of India“ und „National Solidarity Forum“, nennen in einem Bericht Zahlen belegter Angriffe - 505 im vorletzten Jahr und 598 weitere im letzten Jahr. Der Trend setzt sich auch in diesem Jahr fort. Jüngster Höhepunkt ist eben jene Eskalation, die am 3. Mai begann und Erzbischof Machado brandmarkte. In mehreren Bundesstaaten ist die Lage zeitweilig außer Kontrolle geraten: 10.000 Sicherheitskräfte mussten die Ordnung wiederherstellen. Die traurige Bilanz: 60 Menschen wurden ermordet, die meisten davon Christen, und 50 Kirchen wurden zerstört, etwa durch Brandschatzung. Unter diesem Eindruck flohen mehrere Zehntausend Menschen.

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Die indische Zentralregierung gab zwischenzeitlich zu, dass hindu-nationalistische Gruppen, die der Bharatiya Janata Party (BJP; auf deutsch: Indische Volkspartei) von Premierminister Narendra Modi nahestehen, in solche Gewalt verwickelt sind. Sie sind ideologisch und organisatorisch über den Verbund Sangh Parivar miteinander verknüpft. Sie alle teilen die Überzeugung, dass Indien ein Land der Hindus sei - wobei aus historischen Gründen wohl auch Buddhisten, Sikhs und Anhänger des Jainismus dazu gerechnet werden. Muslime und Christen jedoch gelten als Eindringlinge.

Es ist nur eine relativ kleine Schar von Indern, die sich zu Jesus Christus bekennt, aber diese Christen beweisen weiterhin missionarische Ausstrahlungskraft, gerade unter den Indigenen, die traditionellen religiösen Vorstellungen anhängen. Seit Jahren schon beobachten Hindunationalisten mit Argwohn, wie kleinere protestantische Gemeinschaften von diesen Zulauf bekommen - und rufen nach einem Verbot der Mission. In zwölf Staaten haben sie ihr Ziel erreicht: Dort gelten sogenannte „Anti-Konversionsgesetze“, die aus der Amtssprache wörtlich übersetzt als „Gesetz zur Wahrung der Freiheit der Religion“ beschönigt werden. Im Bundesstaat Himachal Pradesh wurde ein bereits existierendes Gesetz vor vier Jahren noch verschärft: Wer beschuldigt wird, andere zum Übertritt getrieben zu haben, steht in Gefahr, für mehrere Jahre eingesperrt zu werden. Die Beweislast ist dabei umgekehrt und liegt beim Beschuldigten. Glaubenswechsel ist so nur nach behördlicher Genehmigung legal.

Anti-Konversionsgesetze schützen nur die Mehrheit

Muslimen und Christen ist es folglich faktisch verboten, ihren Glauben außerhalb ihrer Gemeinschaft zu bezeugen, während Hindus ganz selbstverständlich unter den religiösen Minderheiten für ihren Glauben werben. Die sogenannten Anti-Konversionsgesetze schützen nur die Mehrheit und schränken somit die freie Religionswahl ein. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 garantiert aber diese Freiheit – Indien hat sich mit der Ratifizierung des Pakts zur Einhaltung dieser Standards 1979 verpflichtet.

Vinayak Damodar Savakar
Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Der Begründer des Hindu-Nationalismus, Vinayak Damodar Savakar (1883-1966), wird von radikalen Hindus wie ein Heiliger verehrt.

Es geht den „Safran-Faschisten“, wie sie in englischsprachigen Medien auch genannt werden, nicht nur um die Abwehr geringfügiger demografischer Veränderungen: Menschenrechtsorganisationen wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) kritisieren auch den Missbrauch dieser Gesetze zur Rechtfertigung von Falschbezichtigung sowie Gewalt durch Truppen selbsternannter Wächter. Sie erkennen darin den ideologischen Hintergrund der wachsenden Zahl von Übergriffen auf Christen, die auch durch ihr Netz an Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen in Indien überproportional sichtbar sind und so leicht zu Zielscheiben werden. Politische Beobachter bemerkten, dass Attacken auf Muslime, die mit einem Anteil von 14,2 Prozent zweitstärkste Religionsgemeinschaft im Staat, sich regelmäßig vor Wahlen ereigneten. Sie vermuten einen Zusammenhang zwischen organisierten Angriffswellen und der Mobilisierung von politischen Anhängern der BJP.

Ein trauriges Jubiläum: 100 Jahre Hindu-Nationalismus

Es gibt eine Geschichte der christen- und muslimfeindlichen Gewalt in Indien, die eng mit dem Aufstieg der Hindu-Nationalisten verknüpft ist. Mit seinem Buch „Hindutva: Wer ist ein Hindu?“ begründete der indische Politiker und Publizist Vinayak Damodar Savarkar (1883-1966) vor genau 100 Jahren den Hindu-Nationalismus. Der 1923 erschienene ideologisch-programmatische Essay schloss Angehörige anderer Religionen, insbesondere Christen und Muslime, von der Teilhabe an einer indischen Nation aus - Grundlage dieser Weltanschauung ist die dreifache Einheit von Land, Volk und Religion. In den 1960er-Jahren kam eine Untersuchungskommission zu dem Schluss, dass der Autor und Politiker Savarkar in die Mordpläne gegen Mahatma Gandhi verwickelt war. Zwei Jahre nach Erscheinen seines wirkmächtigen Buchs regte er die Gründung des „Nationalen Freiwilligen-Bundes“ an, des „Rashtriya Swayamsevak Sangh“, kurz RSS, der nach der Ermordung Gandhis zeitweise verboten wurde und länger politisch diskreditiert war. Zwei Umstände hatten dazu geführt, dass aus dem RSS-Mitglied Nathuram Godse der Mörder des „Vaters der indischen Unabhängigkeit“ wurde: Es ist zum einen die Vergötzung der Nation und zum anderen die Rechtfertigung von Gewalt als politisches Mittel durch die Anhänger der hindu-nationalistischen Bewegung.

Die Bharatiya Janata Partei (Indische Volkspartei) - durch die Dachorganisation „Sangh Parivar“ mit dem RSS verbunden - schaffte in den zwei Jahrzehnten nach ihrer Gründung 1980 aufgrund ihrer Anti-Establishment-Rhetorik und angesichts gravierender sozialer Probleme wie Armut und Korruption einen machtvollen Aufstieg. Ihre Politiker knüpfen dabei an die anti-koloniale Argumentation an und greifen die Abwehr von vermeintlicher Überfremdung als Programm auf. Dabei wird insbesondere der Gegensatz zu den Muslimen herausgestrichen und Gewaltexzesse – 1992 gegen die Babri Moschee in Ayodhya und 2002 die Pogrome gegen Muslime nach dem Brand in Godhra/ Gujarat – werden als „gerechtfertigter Volkszorn“ dargestellt.

Die indische Journalistin Revati Laul sagt: „Die Zerstörung der Babri Moschee aus dem 16. Jahrhundert im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh am 6. Dezember 1992 kennzeichnete den Beginn des Aufstiegs und Erfolgs der Hindumajorisierung und der Politik der religiösen Bigotterie.“ Rund 150.000 Hinduaktivisten, die in den frühen Morgenstunden die Moschee angriffen, waren von der Indischen Volkspartei angestachelt worden. Erschreckend: Nach einem Brand in einem Zug mit Hindupilgern zehn Jahre später, am 27. Februar 2002, kamen bei Pogromen fast 2.000 Menschen ums Leben. Opfer wurden dabei am lebendigen Leib verbrannt oder zerstückelt. Der verantwortliche Chief Minister von Gujarat war Narendra Modi; während seine Frauenministerin Maya Kodnani zu 28 Jahren Haft verurteilt wurde, kam er aus Mangel an Beweisen ungestraft davon. In jedem Fall stellt sich die Frage, was er denn tat, um die Grausamkeiten zu verhindern.

Modis Partei gibt den Extremisten Auftrieb

Der politische Siegeszug der Partei und des ehemaligen Chief Ministers (Regierungschefs) von Gujarat (2001 bis 2014), Narendra Modi, seit Mai 2019 zum zweiten Mal hintereinander indischer Premierminister, gibt den Hindu-Nationalisten Auftrieb. Allmählich offenbart sich eine erfolgreiche Unterwanderung staatlicher Institutionen, wie etwa des Justiz- und Polizeiapparats: Politische Gewalt, wie diejenige selbsternannter Schutztruppen, wird nicht geahndet, während gegen Gegner einseitig ermittelt wird. Wie die zunehmende Zahl von Bundesstaatsgesetzen gegen Missionierung beweist, sind auch die gesetzgebenden Versammlungen von dem Trend betroffen. Für die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation „Freedom House“ ist Indien, bislang größte Demokratie der Welt, bereits seit vorletztem Jahr nur noch „teilweise frei“.

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