Haifa

Bürger zweiter Klasse?

Arabische Israelis fordern bei Massenprotesten im ganzen Land mehr Rechte für sich.
Gilad Erdan
Foto: dpa | Gilan Erdan ist Minister für die öffentliche Sicherheit. Er beklagt mangelnde Kooperation von Arabern gegenüber der Polizei.

Eine Szene in der Nähe von Haifa: Eine Gruppe junger palästinensisch-arabischer Israeli erscheint mit einem leeren Sarg bei der Demonstration. Sie rufen dazu: „Wir wollen kein weiteres Opfer zu Grabe tragen." An ihrer Seite und in mittlerweile über 30 mehrheitlichen arabischen Kommunen in Israel gehen seit über zwei Wochen ganze Familien – Väter, Mütter, Kinder – friedvoll demonstrieren und blockieren dabei wichtige Straßen und Kreuzungen. Die Araber in Israel wollen damit auf ihre schwierige Lage aufmerksam machen.

95 Prozent der Schießereien in Israel unter Arabern

Man muss dabei beachten: 95 Prozent der Schießereien in Israel ereignen sich innerhalb der arabischen Gesellschaft, ebenso 60 Prozent der Mordfälle. Allein in diesem Jahr gab es bereits 74 Todesopfer. Das bisher letzte Opfer war der 21jährige Mohammed Hamdan, der vergangenen Freitag vermutlich bei einer Familienfehde erschossen wurde. Das Gewalt- und Schusswaffenproblem in der arabischen Gesellschaft in Israel zeigt sich deutlich daran, dass in der selben Nacht in drei separaten Fällen arabische Israelis angeschossen wurden: Scheich Ali al-Danaf in der jüdisch-arabischen Stadt Ramle in Zentralisrael, ein 20jähriger in Haifa und ein 50jähriger Ingenieur im Dienst der Beduinenstadt Rahat.

Gilad Erdan, dem als Minister für die öffentliche Sicherheit die israelische Polizei untersteht, hat auf die friedlichen Proteste der arabischer Israelis anfangs mit einer diskriminierenden Bemerkung über die Araber reagiert: „Es ist eine sehr, sehr – und noch tausend Mal – sehr gewalttätige Gesellschaft“, sagte er vergangene Woche im Jerusalemer Radio. „Es ist mit der Kultur dort verbunden.“ Viele Streitigkeiten, die in der jüdischen Gesellschaft mit einer Klage endeten, liefen bei den Arabern darauf hinaus, dass die Messer gezogen würden.

Seit Jahren keine neue Polizeistationen errichtet

Nachdem sich aber dann in der vergangenen Woche die vier Vorsitzenden der arabischen Parteien in der Knesset mit Erdan getroffen haben und von ihm einen Regierungsplan zur Bekämpfung der Kriminalität unter den Arabern forderte, hat er Fehler eingestanden: Seit Jahren seien keine neue Polizeistationen errichtet und keine Polizisten eingesetzt worden, um die Kriminalität und den illegalen Waffenbesitz in den mehrheitlich arabischen Kommunen zu bekämpfen. Erdan versprach in einem Fernsehinterview 600 Polizisten speziell mit der Bekämpfung der Gewaltverbrechen im arabischen Sektor zu beauftragen. Auch will er den Bereich aufstocken, der sich um Ermittlungen gegen organisierte Kriminalität kümmert. Erdan fügte aber auch gleich hinzu, dass es bei den arabischen Bürgern oft an Kooperationsbereitschaft gegenüber der Polizei mangele.

Sowohl die israelische Polizei als auch die arabischen Israelis befinden sich in einer paradoxen Situation. Einerseits sind arabische Israelis gleichberechtigte Bürger und haben Anspruch auf Schutz durch den Staat, andererseits werden sie aus sicherheitspolitischer Perspektive als mögliche Gefahr für den jüdischen Staat betrachtet. Zugleich sind im Bewusstsein der arabischen Israelis die Ereignisse im Oktober 2000 eingebrannt: Damals war es zu Massenprotesten arabischer Israelis gegen die aus deren Sicht repressive Politik der israelischen Regierung gegen Palästinenser in den besetzten Gebieten zu Beginn der Zweiten Intifada gekommen. Zwölf israelische, unbewaffnete Araber sind damals umgekommen. Sie wurden etwa von den gummierten Stahlkugeln getötet, die die Polizisten dort bei ihren Einsätzen verwendet haben. Im November desselben Jahres kam eine von der israelischen Regierung eingesetzte Untersuchungskommission zu dem Ergebnis, dass es keinerlei Rechtfertigung für den Einsatz dieser Munition gegeben hatte. Die Deutung der Araber: Sie fühlen sich als Bürger zweiter Klasse.

Generelles Misstrauen gegenüber der israelischen Polizei

Die Ereignisse im Oktober 2000 führten zu einem generellen Misstrauen gegenüber der israelischen Polizei und deren langsamen Rückzug aus den mehrheitlich arabischen Kommunen. Dieses Vakuum führte zu einer zunehmenden Anarchie, zu Korruption und einer wachsenden organisierten Kriminalität. „Die Polizei ist seit 70 Jahren [seit der Gründung des Staates] nicht mehr auf der arabischen Straße gewesen. Jetzt versuchen wir, die Situation zu korrigieren“, erklärte der arabische Israeli Jamal Hakrush in einem Radio-Interview. Er ist stellvertretender Polizeipräsident und zugleich verantwortlich für Verbesserung der Polizeiarbeit in der arabischen Gesellschaft. Arabische Israelis seien zwar an 60 Prozent der Morde in Israel beteiligt, aber die Täter gehörten nur zu 2,5 Prozent der arabischen Bevölkerung an. „Mit anderen Worten, 97,5 Prozent sind normale Bürger. Man kann nicht jeden als gewalttätig bezeichnen. Das ist ein sehr kleiner Prozentsatz, mit dem man sich befassen muss“, meint Jamal Hakrush. Die Massenproteste gehen derweil weiter. Die nächsten sind vor den Polizeistationen in Nazareth und Ramla angekündigt worden.

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