Selten erhielt US-Präsident Joe Biden von führenden amerikanischen Christen so großen Zuspruch wie für seine Entscheidung, die Morde an den Armeniern im Osmanischen Reich ab 1915 als Völkermord anzuerkennen. Der Vizevorsitzende der US-Kommission für Internationale Religionsfreiheit (USCIRF), Tony Perkins, begrüßte den Schritt; der Präsident der Organisation "In Defense of Christians" (IDC), Toufic Baaklini, bedankte sich "zutiefst" bei Biden und gratulierte, da er als erster Präsident der USA den Völkermord anerkennt. Auch der Republikaner Ronald Reagan hatte von Völkermord gesprochen, diesen jedoch nicht offiziell anerkannt. In Europa haben dies zahlreiche Staaten getan. Die US-Bischöfe sprachen jüngst in einer Erklärung vom "ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts".
Biden: Bestätigung einer historischen Tatsache
Biden hatte vergangenen Samstag anlässlich des 106. Jahrestags des Genozid-Beginns erklärt, man erinnere jedes Jahr an jenem Tag "an all jene, die beim Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich starben", und verpflichte sich, "erneut zu verhindern, dass sich eine solche Gräueltat jemals wiederholt". Es handele sich um die Bestätigung einer historischen Tatsache und gehe nicht darum, der Türkei "Vorwürfe zu machen".
Die Anerkennung kam nicht überraschend, löste Biden doch ein Versprechen ein, das er im Wahlkampf gegeben hatte. Der Schritt wirft jedoch die Frage auf, wie sich Biden die Beziehungen zum NATO-Partner Türkei vorstellt. Derzeit gilt das Verhältnis als unterkühlt. Beobachter sehen in Bidens Schritt den Versuch, sich von Erdoan nicht vorführen zu lassen und selbst den Ton anzugeben. Es gibt jedoch auch in der demokratischen Regierung Stimmen, die mahnen, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen - dazu ist die Rolle der Türkei in Konfliktregionen wie Syrien, Afghanistan und der Ukraine zu stark. Noch ist nicht ersichtlich, in welche Richtung sich Bidens Politik entwickelt. Der NATO-Gipfel im Juni, auf dem Biden und Erdogan zusammentreffen werden, könnte darüber Aufschluss geben.
Begeisterung bei den Armeniern
Begeisterung löste Biden bei den Armeniern aus. So dankte das Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, Katholikos Karekin II., dem US-Präsidenten im Namen des armenischen Volkes. Nach dem "barbarischen Krieg" um Berg-Karabach komme die Unterstützung jetzt zu einem wichtigen Moment. Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan begrüßte die Erklärung Bidens als "machtvollen Schritt zu Gerechtigkeit und geschichtlicher Wahrheit", der eine Unterstützung für die Nachfahren der Opfer des Genozids sei. "Die Anerkennung des armenischen Genozids ist nicht nur als Würdigung der 1,5 Millionen unschuldigen Opfer bedeutsam, sondern auch, um eine Wiederkehr solcher Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern", schrieb Armeniens Regierungschef an Biden.
Anders die Reaktionen in der Türkei: Der Präsident des Amtes für Religionsangelegenheiten (Diyanet), Ali Erba, meinte, der Ausdruck Völkermord sei "eine Verleumdung gegen unsere Nation" und "inakzeptabel". Die islamische Zivilisation habe der Welt "die Erfahrung des Zusammenlebens" geschenkt: "Die Osmanen ließen Millionen Menschen verschiedener Religionen und Rassen jahrhundertelang in Frieden leben." Der US-Botschafter wurde ins Außenministerium in Ankara zitiert. Außenminister Mevlüt Cavuolu sagte, Bidens Statement verdrehe historische Fakten, schlage tiefe Wunden und untergrabe das wechselseitige Vertrauen und die Freundschaft. Präsident Erdogan drückte - wie mehrfach seit 2014 - den Nachfahren der Opfer sein Beileid aus.
In einem Brief an den armenischen Patriarchen von Istanbul, Sahag II., vermied Erdogan Begriffe wie Genozid und Völkermord, erinnerte aber "respektvoll an die osmanischen Armenier, die unter den harten Bedingungen des Ersten Weltkriegs ihr Leben verloren haben" und an "den Schmerz ihrer Verwandten". Man dürfe "nicht zulassen, dass die jahrhundertealte Kultur des Zusammenlebens von Türken und Armeniern vergessen wird", so Erdogan. Interventionen von Dritten würden niemandem helfen.
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