Am Wochenende wurde es noch einmal richtig eng: Abertausende stürmten unmittelbar vor Beginn des landesweiten Lockdowns die Shopping-Meilen und Einkaufszentren. Da wurde gedrängt und gekauft, als ob es keine Pandemie gäbe. Knapp 12 000 Menschen waren in Österreich bis zu diesem Tag „mit oder an“ Corona gestorben; bei etwa 15.000 Neuinfektionen pro Tag lag nun das Land mit seinen 8,9 Millionen Einwohnern und einer Impfrate von gut 65 Prozent.
Mindestens 40.000 Menschen, nach anderen Schätzungen mehr als 100.000, zogen durch die Wiener Innenstadt, um gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung zu demonstrieren. „Nein zur Impfpflicht“ und „Niemand gewährt mir Freiheit. Ich bin frei!“ stand auf Plakaten. Die unterschiedlichsten Milieus versammelten sich hier, fast alle friedlich, nur wenige auch zu Randale bereit. Es waren keineswegs nur „Leugner, Impfverweigerer, rechte Gruppen“, wie die auflagenstärkste Zeitung des Landes, die „Kronen Zeitung“ schrieb. In Linz kamen am Sonntag zehnmal so viele wie erwartet zur Demonstration, auch in Salzburg gingen empörte Bürger auf die Straße.
Nicht eine, sondern viele Wellen der Empörung gehen derzeit durch Österreich: Empört zeigen sich interviewte Experten, Mediziner und Pflegekräfte darüber, dass die Regierung so lange einen Lockdown verzögerte und der drohenden Überlastung der Intensivstationen tatenlos zusah. Empört sind viele doppelt oder dreifach Geimpfte darüber, dass die Regierung das Versprechen des damaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz brach, der im August verkündet hatte, die Pandemie sei „für die Geimpften vorüber“. Empört sind viele Ungeimpfte, dass die Regierung in der Vorwoche eine Impfpflicht ab Februar 2022 beschloss und diese mit einer Verwaltungsstrafe von etlichen tausend Euro sanktionieren will. Empört sind viele – unabhängig vom Impf-Status – über den neuen Lockdown mit seinen weitreichenden Ausgangsbeschränkungen und einem wirtschaftlichen Schaden von rund einer Milliarde Euro pro Woche.
Gezwungen, wieder zum Holzhammer zu greifen
Die Medien, allen voran der öffentlich-rechtliche ORF mit seiner Hauptnachrichtensendung ZIB-2, hatten die Regierung regelrecht vor sich hergetrieben: Interviewt wurden systematisch (wie man angesichts ignorierter alternativer Stimmen unterstellen muss) Scharen von Experten, die für einen sofortigen, umfassenden, landesweiten Lockdown warben und eine allgemeine Impfpflicht für notwendig, dringlich und verfassungsrechtlich möglich erklärten.
Lange zögerten Bundeskanzler Alexander Schallenberg und die ÖVP-Regierungsmitglieder, die Versprechen gegenüber den Geimpften zur Makulatur zu erklären. Man begnügte sich zunächst mit der Verhängung eines Lockdown für die Ungeimpften. Doch die Medien unterschiedlicher Ausrichtung und der grüne Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein drängten, die schlechten Nachrichten aus den Bundesländern Salzburg und Oberösterreich überschlugen sich.
Am Freitag war sich die politische Klasse – bestehend aus der Bundesregierung, den Regierungschefs der Länder und der SPÖ als größter Oppositionspartei – dann einig: Und so ging Österreich am Montag in seinen vierten Lockdown. Weder dafür noch für die gebrochenen Versprechen, den wirtschaftlichen Schaden, die zerbrechenden Karrieren, das Chaos in Impfstraßen und Teststationen, die Konfusion in Kindergärten und Schulen (wo jetzt die Eltern entscheiden, ob und wann die Kinder kommen) will die Regierung irgendwie verantwortlich sein.
Schuld sind die Ungeimpften, lautet die im medialen Dauerfeuer getrommelte Nachricht, die vom Bundeskanzler abwärts verbreitet wird. Weil nicht genügend Menschen impfen gingen, sei die Regierung gezwungen, „wieder mit der Holzhammer-Methode zu arbeiten“, sagte der Gesundheitsminister. In der ZIB-2 inquisitorisch zur Entschuldigung aufgefordert, sagte der Kanzler, er entschuldige sich bei denen, „die alles richtig gemacht haben“, nämlich bei den Geimpften.
Für deren Unmut habe er Verständnis, so Schallenberg, aber schuld an der Misere seien die Ungeimpften, die sich „sehr unsolidarisch gezeigt“ hätten. Seiner Wut und Verachtung für die ungeimpfte Minderheit ließ der Kanzler freien Lauf: Wer „die Verantwortung nachhaltig negiert“, müsse nun in die Pflicht genommen werden, begründete Schallenberg die Einführung einer Impfpflicht. Der ORF, der eine solche herbeigesendet hatte, interviewte prompt „den“ Verfassungsjuristen, den der ORF immer interviewt, um sich die Moderatorenmeinung bestätigen zu lassen, dass die Impfpflicht nicht nur verfassungsrechtlich voll in Ordnung sei, sondern am besten sofort eingeführt werden sollte. Und ja, Verwaltungsstrafen von ein paar tausend Euro und sogar Freiheitsstrafen seien da schon drin, sagte „der“ Verfassungsjurist. Für Geimpfte endet der vierte Lockdown – so das aktuelle Versprechen des aktuellen Kanzlers – am 12. Dezember, rechtzeitig für die Weihnachtseinkäufe, die ja nicht alle in Luxemburg versteuert werden sollen.
Für Ungeimpfte wollte Schallenberg auch auf Nachfragen kein Licht am Ende des Tunnels zeigen. Sie dürfen weiter im Lockdown schmoren, oder sich in der Impfstraße anstellen. Auch jenseits der FPÖ, die als einzige Fundamentalopposition nach dem Ibiza-Absturz von der Corona-Welle erneut nach oben gespült wird, werden da breite Wählerschichten frei, die sich bisher ÖVP, SPÖ oder Grünen nahestehend wähnten.
Die Kirche geht nicht in den Lockdown
Anders als im Vorjahr macht die katholische Kirche diesmal den Lockdown nicht mehr mit: Zwar unterliegen alle nicht genuin religiösen Aktivitäten dem staatlichen Recht, so dass viele Veranstaltungen abgesagt wurden.
Doch im Gegensatz zum Frühling 2020 werden weiter öffentliche Gottesdienste stattfinden, bei denen die Gläubigen weder einen 3G-Nachweis noch einen Grünen Pass vorweisen müssen. Lediglich FFP2-Masken und ausreichende Abstände werden Messbesuchern abverlangt. Ein 3G-Nachweis ist nur bei jenen gefordert, die einem liturgischen Dienst nachkommen. Sogar der seit langem für Ende November geplante Ad-limina-Besuch der Bischofskonferenz in Rom wird verschoben, weil die Bischöfe „als Zeichen der Verbundenheit im Land bei den Menschen bleiben“ wollen, wie der Konferenzvorsitzende, der Salzburger Erzbischof Franz Lackner, nun formulierte.
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