Es gibt nicht viele Momente, in denen ich das Internet in die Luft jagen würde, wenn ich könnte. Neulich war es allerdings so weit: Ich stolperte bei Twitter über einen Tweet, in dem sich jemand darüber aufregte, dass Leute sich zu Halloween als „Jeffrey Dahmer“ verkleidet hätten. Neugierig folgte ich dem Köder. Ziemlich schnell stieß ich auf Konten, meist von jungen Mädchen geführt, die Dinge posten wie „Ich liebe dich, Jeff!“ oder sich „Dahmer? Ehefrau“ nennen, mit Bildern eines jungen Mannes mit blonden Locken und einer goldenen 80er-Jahre-Brille. Allein daran nichts Verwerfliches. Nur eines war irritierend: In vielen Fotos trägt er einen Sträflingsanzug. Denn Jeffrey Dahmer war ein Serienmörder, Kannibale und Nekrophiler.
Der Mörder ist ein Star
Und seit der Veröffentlichung einer Serie über Dahmers Taten auf Netflix ist der Mörder ein Star. Es ist nichts Neues, dass ein Antiheld zum Objekt der Begierde für Fans wird – man erinnere sich an den Sadisten Christian Grey aus der Bestseller-Erotikreihe „50 Shades Of Grey“. Aber hier geht es nicht mehr nur um eine Fantasie: Jeffrey Dahmer hat mindestens 17 Menschen getötet, ihre Leichen geschändet und gegessen. Echtes Verbrechen als Entertainment.
Natürlich kritisierten die Angehörigen der Opfer das. Es reißt neue Wunden wieder auf. Unnötig explizite Szenen erwecken, so Kritiker, außerdem den Eindruck, es ginge den Produzenten nicht um Berichterstattung, Aufklärung oder die Würdigung der Opfer, sondern letztlich um die Faszination für den Täter – vielleicht, weil sie wissen, dass die Leute, die immer wieder zu der Sendung zurückkommen, das nur dann tun, wenn sie sich unterhalten fühlen.
Kein Gefühl dafür, was Verbrechen bedeutet
Hier zeigt sich ein Trend: Unsere Gesellschaft hat immer weniger ein Gefühl dafür, was „Verbrechen“ bedeutet. Sie unterschätzt, wie wichtig das soziale Miteinander ist, und dass Verbrechen dieses Miteinander stören. Ein Mord ist, wie fast jedes Verbrechen, nun mal keine „gute Geschichte“, auch dann, wenn der Täter gefasst wird. Denn dabei werden nicht nur Leben und Familien zerschlagen, sondern auch soziales Vertrauen.
Erst neulich haben Studien gezeigt, dass 41 Prozent der Frauen in Deutschland es nachts vermeiden, aus dem Haus zu gehen. Was für einen Profit schlagen Streamingdienste aus solchen Ängsten? Besonders perfide ist, dass Dahmer keine Frauen, sondern junge Homosexuelle getötet hat, neun davon Afro-Amerikaner: Opfer, die damals am Rand der Gesellschaft lebten. Viele vermuten, dass Dahmer überhaupt nur deshalb so lange sein Unwesen treiben konnten, weil die Opfer und ihre Familien in der Gesellschaft und bei der Polizei nicht ausreichend Gehör fanden.
Tabu wird zur Grauzone
Eine unangenehme Frage: Kommt der Dahmer-Hype vielleicht auch daher, dass es für Frauen schwerer ist, sich mit homosexuellen männlichen Opfern zu identifizieren? Das würde einen beachtlichen Mangel an Solidarität mit dem anderen Geschlecht bedeuten. Die „Dahmer“-Fetischisten sind ein Alarmzeichen für alle, denen etwas an unserem ohnehin zerfasernden sozialen Gefüge liegt.
Es ist zwar natürlich, dass wir Menschen uns für das Verhalten von Kriminellen interessieren: Sie sind die Raubtiere unter uns. Auch ich höre gerne True Crime. Es ist normal, verstehen zu wollen, was Psychopathen antreibt, wie sie ticken – aber es ist nicht normal, sich in sie zu verlieben. Die „sozialen“ Medien machen das Tabu zur Grauzone. Sie sind der Ort, wo ich meine abartigsten Fantasien bestätigen lassen kann. Ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn es doch nur einen „Aus“-Knopf gäbe.
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