Nach dem Erdbeben

Als um 4 Uhr 17 die Erde bebte

Das Erdbeben in der Türkei stellt auch das katholische Apostolische Vikariat von Anatolien vor große Herausforderungen. Ein exklusiver Bericht des dortigen Generalvikars aus İskenderun.
Zerstörung nach Erdbeben in der Türkei
Foto: P. Antuan Ilgit, S.J. | Das Erdbeben in der Türkei machte auch vor kirchlichen Einrichtungen des Apostolischen Vikariats von Anatolien nicht halt.
P. Antuan Ilgit, S.J.
Foto: privat | P. Antuan Ilgit, S.J. ist ein türkischer römisch-katholischer Priester, geboren 1972 in Hersbruck, Deutschland. Nach seinem Theologiestudium an der Päpstlichen Universität Gregoriana (Rom) erhielt er ein Lizentiat in ...

Die Stadt İskenderun, das alte Alexandretta, ist der Sitz des "Apostolischen Vikariats von Anatolien" und ich bin der Generalvikar dieses Vikariats . Seit Dezember 2021 diene ich dem Vikariat und bin gleichzeitig im Auftrag der türkischen Bischofskonferenz für die Jugend- und Berufungspastoral in der gesamten Türkei zuständig. Nur wenige Tage vor dem Erdbeben hatten wir ein Jugendtreffen mit katholischen Jugendlichen aus allen Teilen der Türkei veranstaltet. Und in diesen Tagen bereiteten wir uns auf den Weltjugendtag 2023 in Lissabon/Portugal vor, wo wir in Zusammenarbeit mit der Diözese Reggio Emilia in Italien mit etwa 40 türkischen Jugendlichen reisen wollten.

Ich bin Jesuit, aber ich lebe nicht in meiner Ordensgemeinschaft, welche sich in Ankara befindet, etwa 600 km von İskenderun entfernt. Ich diene im Vikariat, das meine eigentliche Heimat ist und gleichzeitig eine von Bischöfe Paolo Bizzeti SJ gegründete Gemeinschaft, die aus vier Ordensschwestern, einer ungarischen Fokolarin, einer italienischen Freiwilligen aus Genua und mir besteht.

Die Kathedrale ist eine Ruine

Wer Bischöfe Paolo gut kennt, weiß, dass er fähig ist, solche Gemeinschaften aufzubauen und sie zusammenzuhalten, indem er die Eucharistie, das Wort Gottes und den Dienst in den Mittelpunkt des Lebens stellt. Auch der Direktor der Caritas Anatolien, ein verheirateter Vater zweier Kinder, arbeitet eng mit uns zusammen. Nunmehr ist unsere Kathedrale eine Ruine, während die Büroräume und Gästezimmer und unser Refektorium sowie die Kapelle Gottseidank noch nutzbar sind.

Lesen Sie auch:

Vom ersten Moment des Erdbebens an waren wir ein Zufluchtsort für unsere Gemeindemitglieder und unsere Nachbarn. Der Einsturz unserer Kathedrale, die der Verkündigung Unserer Lieben Frau gewidmet ist, war sehr schmerzhaft für unsere Leute. Unsere Gläubigen haben nicht nur ihre Heime, sondern auch ihr kirchliches Heim verloren. In den ersten Tagen beherbergten wir etwa 100 Menschen, Katholiken, Orthodoxe, apostolische Armenier und auch einige Muslime, die zu uns in den Hof kamen. Ich habe sie eingeladen, bei uns zu bleiben. In unserem Refektorium haben wir gegessen, geschlafen und die heilige Eucharistie gefeiert.

Wir haben alles geteilt, was wir hatten. Gott sei Dank haben wir von Anfang an Hilfe erhalten. Sicherlich hat die Arbeit unseres Bischöfe, der anfangs noch in Italien war, viel dazu beigetragen, dass wir ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wurden. Der Unterpräfekt der Stadt, der mein Kommilitone an der Universität war, Soldaten des spanischen Marineschiffs LHD „Juan Carlos I“ und der Bürgermeister von İstanbul, Ekrem İmamoğlu, waren die ersten, die uns dringend benötigte Hilfen brachten.

Circa 600 warme Mahlzeiten werden täglich verteilt

Als sich die Nachricht verbreitete, dass wir hier im Vikariat unsere Nachbarn trotz des Mangels an Strom, Wasser und Gas beherbergten, kamen immer mehr Erdbebenopfer und blieben bei uns. Schon bald verteilten wir täglich über 1 000 warme Mahlzeiten. Da die Stadt stark zerstört ist, sind viele Menschen zu Verwandten weggezogen. Heute verteilen wir „nur“ noch circa 600 Mahlzeiten täglich, für all jene die keine Verwandten oder Alternativen haben. Dies ist nur möglich dank der Unterstützung durch unsere beiden Schwesterdiözesen in der Türkei, nämlich dem Apostolischen Vikariat İstanbul und der Erzdiözese İzmir. Großzügige Hilfe haben wir auch von den chaldäischen und syrischen Kirchen sowie von mehreren protestantischen Gemeinschaften erhalten. Wir alle sind ihnen für ihre wahrhaft ökumenischen Hilfen sehr dankbar.

In der Tat versuchen wir hier bei Caritas Anatolien, das ignatianische Prinzip anzuwenden: „Wir erreichen jene, die andere nicht erreichen“. Wir versuchen also, nüchtern zu sein, wenn wir Menschen helfen, und besonders auf jene zu achten, die unbeachtet sind oder zu schwach sind, sich bemerkbar zu machen. In diesen Zeiten neigen die Menschen aus Angst vor der Zukunft dazu, gespendete Güter zu horten, ohne an Mitmenschen zu denken. Und ich denke auch an die nicht sehr ferne Zukunft, wenn die westlichen Länder uns vielleicht vergessen haben werden. Wer wird dann den christlichen Gemeinden hier in Anatolien helfen? Oder wer wird sich kümmern um die afghanischen, iranischen, syrischen, irakischen Flüchtlingen, denen wir hier seit Jahren helfen, und die wieder alles verloren haben, was sie sich in den letzten Jahren aufgebaut haben? Wir, das Vikariat und Caritas Anatolien, werden hier bleiben.

Lesen Sie auch:

Die Kirche in der Türkei ist ein großes und buntes Mosaik, und die Teile bestehen aus einheimischen Christen verschiedener Ethnien: lateinische, armenische, griechische, arabisch-christliche, syrische, chaldäische), christlichen Flüchtlingen und afrikanisch-christlichen Studenten, die an türkischen Universitäten studieren. Und es liegt in unserer römisch-katholischen Verantwortung, dieses Mosaik zusammenzuhalten.
Ja, ich habe jeden Tag die heilige Eucharistie gefeiert. Die Erde bebte am Montag, dem 6. Februar morgens um circa 4 Uhr 17. Sofort nach Sonnenaufgang ging ich über die Trümmer der Kathedrale, um die verstreuten geweihten Hostien aus dem zerbrochenen Tabernakel zu sammeln.

Zusammen mit den Schwestern brachten wir sie an einen würdigen und sicheren Ort. Und nur wenige Stunden nach dem Erdbeben haben wir die erste heilige Messe im Refektorium gefeiert, ich werde sie nie vergessen: Sie war eine der am meisten „mitgefeierten“ heiligen Messen, die ich in meinem ganzen Priesterleben gefeiert habe. Wir alle, Katholiken, Armenier und Orthodoxe weinten zusammen mit unseren gottesfürchtigen muslimischen Gläubigen, die als Beobachter an der heiligen Messe teilnahmen. Vielleicht hörten unsere muslimischen Gäste zum ersten Mal die Worte des Leidens, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi, der für sie einer der größten Propheten und für uns der Herr des Lebens ist.

Der eucharistische Herr steht an unserer Seite

Kürzlich rief mich einer meiner ehemaligen Studenten aus dem Priesterseminar von Posillipo der Diözese Neapel an, um mich zu ermutigen und sagte: „Pater Antuan, Sie sind wie das Kerzenlicht im Tageslicht, das man nicht sehen kann.“ Vielleicht sind wir das. Und niemand von uns hat daran gedacht, wegzugehen. Der Bischöfe, die Schwestern und die Laien, alle zusammen sind wir hier und werden hier bleiben, um unsere Kathedrale, Gemeinschaft und Zukunft wieder aufzubauen.

P. Antuan Ilgit, S.J.
Foto: privat | P. Antuan Ilgit, S.J. ist ein türkischer römisch-katholischer Priester, geboren 1972 in Hersbruck, Deutschland. Nach seinem Theologiestudium an der Päpstlichen Universität Gregoriana (Rom) erhielt er ein Lizentiat in ...

Wenn ich mit diesen Zeilen fertig bin, muss ich gehen und unsere Leute trösten, denn wir beten gemeinsam den Rosenkranz für zwei Mitglieder unserer Gemeinschaft: für Paulette und Yusuf, ihren Sohn. Sie lebten in diesen Tagen als Flüchtlinge hier bei uns und sie kamen bei einem Autounfall ums Leben, als sie auf dem Weg zu ihren Verwandten waren. Eine Tragödie in einer Tragödie.

Ich muss stehen bleiben. Aber wie ich bereits gesagt habe, bin ich nicht allein. Ich stehe in ständigem Kontakt mit unserem Bischöfe, mit den Schwestern, der Fokolarin, unseren Vikariatsmitarbeitern und unserer katholischen Jugend. Eine Woche vor dem Erdbeben hatte ich meinen geliebten Vater beerdigt, und diese Tragödie hat mich meinen Kummer bereits „vergessen“ lassen. Meine Freunde aus der Kindheit, meine Verwandten haben uns sofort mit dem Nötigsten versorgt: Licht, Decken, Trinkwasser.

Ich muss stehen bleiben, auch um uns alle zusammenzuhalten und im Dienst vereint zu sein. Die tägliche Eucharistie gibt mir die Kraft, mich mit jedem von euch, dem Leib der christlichen Gemeinschaft und der ganzen heiligen Kirche zu vereinen. Ich wiederhole oft und von ganzem Herzen die gütigen persönlichen Worte von Papst Franziskus, die mich in diesen Tagen erreicht haben: „Lieber Bruder, ich bin dir nahe, dir und deinem Volk. Und ich bete. Möge der Herr dich segnen und die Gottesmutter dich beschützen.“


Aus dem Englischen von Julian K. Falkenberg

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
P. Antuan Ilgit, S.J. Caritas Erdbeben Jesus Christus Juan Carlos I. Mutter Jesu Maria Orthodoxe Papst Franziskus Römisch-katholische Kirche

Weitere Artikel

Katholiken und Orthodoxe seien „gemeinsam zum gleichen Ziel unterwegs“, sagt der Grazer Bischof Krautwaschl.
02.02.2023, 19 Uhr
Stephan Baier
Die jüdische Gemeinde von Antiochia, dem heutigen türkischen Antakya, wo die Nachfolger Jesu zum ersten Mal als Christen bezeichnet wurden, gibt es bald nicht mehr.
03.12.2022, 13 Uhr
Bodo Bost
Rom nimmt Abschied von Benedikt XVI. – Ein unerwartet starker Andrang vor dem aufgebahrten Emeritus im Petersdom, den viele jetzt schon als Kirchenlehrer der modernen Zeit verehren.
08.01.2023, 09 Uhr
Guido Horst

Kirche

Was auf „synodalen Wegen“ derzeit geschieht, ist mehr als die Wiederholung altbekannter Forderungen.
21.03.2023, 19 Uhr
Martin Grichting