Würzburg

Achsenzeit

Eine Dekade wird besichtigt: Die "Tagespost" blickt zurück auf die letzten zehn Jahre - aus politischer, gesellschaftlicher und kirchlicher Sicht.
Bilanz eines schwierigen Jahrzehnts
Foto: Michael Kappeler (dpa) | Ein schwieriges Jahrzehnt geht zu Ende: Aus kirchlicher Perspektive war es maßgeblich geprägt vom Rücktritt von Papst Benedikt XVI.

Die neue Hybris

Das geistige Leben soll der Weiterreichung des Wahren, Guten und Schönen dienen. Was das tiefere Verständnis des anderen mit einschließt. Davon war in den 2010er Jahren wenig zu spüren. Mit "Hass-Rede" und "Fake-News" wurde operiert. Streit und Zwietracht nahmen zu, als seien in einem alchemistisch-diabolischen Sozial-Experiment die Gegensätze entfesselt worden.

Egal, ob es ein neues Buch von Thilo Sarrazin war, das die Gemüter erhitzte oder der Sieg des Travestiekünstlers "Conchita Wurst" beim "Eurovision Song Contest". Verschiedene Milieus (Neudeutsch: "Blasen") standen sich auf der Werte-Ebene unversöhnlich gegenüber. Gut zu diagnostizieren im Jahr der "Willkommenskultur" 2015, das Befürworter und Gegner auf Konfrontationskurs brachte. Katholiken eingeschlossen. Genauso uneins ist man, wenn es um den richtigen Umgang mit dem Islam geht. Während manche neues Evangelisierungs-Potenzial wittern, fürchten andere eine "Islamisierung" und verbunden damit den Verlust der öffentlichen Sicherheit. Michel Houellebecq gab diesen gesellschaftlichen Tendenzen in seinem Roman "Unterwerfung" Ausdruck. Konflikte auch rund um das Geschlechtsleben. Von Hollywood aus expandierte die #metoo-Debatte und knüpfte an Identitäts- und Opfer-Diskurse an ("Ehe für alle", "Drittes Geschlecht", "gendergerechte Sprache"), wovon auch das Mega-Thema der letzten 2010er Jahre, der "Klimawandel", personifiziert in der Aktivistin Greta Thunberg ("How dare you?"), nicht ganz frei ist.

Was steckt hinter all diesen Spaltungen? Die Menschheit, teilweise erfasst vom Dämon der Selbstermächtigung, scheint in ein Zeitalter der neuen Hybris zu treten. Nur Christen, die den Chaos-Kräften mit dem "Dekalog", dem Naturrecht und mit Klarheit entgegentreten, werden trotz eigener Schwächen das Wahre, Gute und Schöne bewahren können.
Stefan Meetschen

 


Europa blieb im Krisenmodus

Europäische Union
Foto: hadrian-ifeelstock (270500324) | Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union kamen in diesem Jahrzehnt zum Stillstand.

Die Europäische Union ist ein Staat im Werden. So hätte man vor einem Jahrzehnt noch wohlbegründet bilanzieren können. Trotz vieler Krisen und Rückschläge nahm das vereinte Europa seit seinem Start als Montanunion 1951 eine dynamische Entwicklung: Es wuchs von sechs auf 28 Mitgliedstaaten und vertiefte sich immer mehr   von einer "Gemeinschaft für Kohle und Stahl" zur Rechtsgemeinschaft und politischen Union.

Doch beides   Erweiterung und Vertiefung   kam im nun endenden Jahrzehnt zum Stillstand. Mit Kroatien wurde zwar 2013 nochmals ein Land in die EU aufgenommen, jedoch als Nachzügler zur 2004 und 2007 vollzogenen Osterweiterung. Alle übrigen Beitrittskandidaten wurden auf unbestimmte Zeit ins Wartezimmer gebeten. In seiner Amtszeit werde es keine EU-Erweiterung geben, verkündete Jean-Claude Juncker 2014 gar. Der Frust auf dem Balkan war unüberhörbar. Stattdessen leitete 2016 erstmals ein EU-Mitglied seinen langen Abschied von der Union ein. Auch bei der Reform der EU ging, trotz detaillierter Vorschläge, nichts weiter: Obwohl die EU institutionelle und strukturelle Schwächen aufweist, blieb es beim 2009 in Kraft getretenen Lissabon-Vertrag. Niemand wagte einen zweiten Anlauf zu einer Europäischen Verfassung oder zu einer umfassenden Reform.

Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts war die EU ganz mit Krisenmanagement beschäftigt. Viele dieser Krisen hatten ihren Ursprung außerhalb Europas: die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Migrationswellen, die Kriegs- und Krisenherde im Osten und Süden Europas. Immerhin: Allen Auguren zum Trotz ist die EU weder an der eigenen Stagnation noch an den von außen hereinbrechenden Krisen gescheitert oder zerbrochen. Das vereinte Europa stand trotz großer Meinungsverschiedenheiten letztlich zusammen   und hat sich als wetterfest erwiesen.
Stephan Baier

 

Von Spritzen und Scheren

Das Jahrzehnt aus bioethischer Sicht
Foto: stock.adobe.com | Die zweite Dekade des 21. Jahrhunderts stand aus bioethischer Sicht im Zeichen von Spritzen und Scheren.

Auch wenn in Deutschland seit 2017 wieder über Abtreibung gestritten wird, stand die zweite Dekade des ersten Jahrhunderts des dritten Jahrtausends weltweit eher im Zeichen von Spritzen und Scheren. Tötung auf Verlangen und ärztlich assistierter Suizid   in den Benelux-Ländern während der ersten Dekade legalisiert   sind vielerorts auf dem Vormarsch. Australien (2017), Kanada (2016), Kolumbien (2017), Neuseeland (2019) sowie die US-Bundesstaaten Vermont (2013), New Mexiko (2014) und Kalifornien (2016) beschlossen ähnliche Gesetze. Frankreich, in dem Ärzte seit 2016 Patienten terminal sedieren und gleichzeitig lebenserhaltende Maßnahmen einstellen können, hat die einst klare Grenze zwischen Tötung auf Verlangen und Therapieverzicht verwischt.

In Deutschland schob der Bundestag, der bei biopolitischen Entscheiden jahrzehntelang nur die Option der Legalisierung zu kennen schien, dem globalen Trend mit dem "Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" 2015 einen zarten Riegel vor. Nach Klagen von interessierter Seite muss nun Karlsruhe klären, ob der neue Straftatbestand verfassungskonform ist.

Im Zeichen der Schere steht die auslaufende Dekade, seit die Molekularbiologin Jennifer Doudna und die Immunologin Emmanuelle Charpentier im Sommer 2012 ein neues molekulargenetisches Werkzeug erfanden, mit dem sich der genetische Code von Lebewesen verändern lässt. Mit den auf das Akronym CRISPR (Clustered Regulary Interspaced Short Palindromic Repeat) getauften Genscheren lassen sich schadhaft mutierte oder auch nur unliebsame Gene herausschneiden und durch gesunde oder für besser befundene ersetzen. Ende 2018 wurden in China mit CRISPR erstmals zwei im Labor erzeugte Mädchen genetisch manipuliert. Wer meint, es stände Menschen gut zu Gesicht, mit Spritze und Schere Gott zu spielen, kann ja mal versuchen, ein einziges Akronym für beide Werkzeuge zu bilden.
Stefan Rehder

 

Verlorene Jahre

Abstimmung über "Ehe für alle"
Foto: Wolfgang Kumm (dpa) | Einschneidende Veränderung: 2017 beschließt der Bundestag die Einführung der "Ehe für alle". Die Grünen bejubeln das.

Für die Familie war es kein gutes Jahrzehnt. Zwar gab es kein Ereignis, das die Lage plötzlich verfinstert hätte: Die Lage verändert sich schleichend, dem Stamm Familie wird das Wasser abgegraben und seine für die Gesellschaft notwendigen Früchte   Bindungsfähigkeit, solidarisches Verhalten, Empathie, Freundlichkeit, um nur einige zu nennen   werden mickriger, die Temperatur der menschlichen Beziehungen kühlt ab, der Staat übernimmt immer mehr Funktionen im Bereich der familiären Kernkompetenz, dem Management der Emotionen. Der Staat aber kann nicht lieben. Das Smartphone übrigens auch nicht, es hat seit 2012 den Konfliktstoff in Familien erheblich vermehrt.

Auch die wirtschaftliche Situation hat sich nicht verbessert. Gehälter und Renten stiegen schneller als die Transferleistungen, kinderreiche Familien gelten nach wie vor als hohes Armutsrisiko. Damit einher geht der Zwang von Familien, die Kinder in Fremdbetreuung zu geben, um Geld zu verdienen. Der wirtschaftliche Spielraum wurde enger, messbar an Mieten, Kaufkraft und der Zahl der Kinder in Hartz 4.

Die einschneidendste Veränderung erfolgte in Karlsruhe. Nachdem die C-Parteien schon vorher desertiert waren, hat die Familie ab 2011 den letzten Verbündeten, das Bundesverfassungsgericht, durch personelle Veränderungen verloren. Im Februar 2011 kam Susanne Baer auf dem Ticket der Grünen nach Karlsruhe, 2007 schon Ferdinand Kirchhof auf dem Ticket der CDU. Beide gelten nicht als Freunde der Familie. Mit ihnen und anderen Richterinnen, die auf dem Ticket der SPD in das Gremium einzogen, änderte sich die Urteilssprechung. Die "Homo-Ehe" wurde sukzessive der Ehe gleichgestellt, mögliche Korrekturen nicht vollzogen. Hinzu kam die Genderideologie mit der Vielfalt der Geschlechter und der Frühsexualisierung in Kitas und Schulen. Und die DBK schweigt.
Jürgen Liminski

 

Das Zentrum schwächelt

Rom und der Synodale Weg
Foto: Harald Oppitz (KNA) | Der Synodale Weg in Deutschland ist Ausdruck des Gefühls, Rom segne jetzt auch nationale Sonderwege ab.

Vor zehn Jahren hat die Missbrauchskrise auch den Vatikan erreicht. Die Medienkampagne gegen Benedikt XVI. und die Erschütterung durch den Fall Vatileaks lösten eine Schwäche in der Wahrnehmung Roms als "Felsen" der Kirche aus, die 2013 mit dem ersten Papst-Rücktritt in der neueren Zeit ihren Höhepunkt fand. Der unter

Johannes Paul II. gestärkte Nimbus eines Vatikans, der die Linie vorgibt, begann zu bröckeln. Zum ersten Mal seit dem Altertum wählten die Kardinäle einen "Mann vom anderen Ende der Welt" in das höchste Kirchenamt, von dem bekannt war, kein Freund der römischen Zentrale zu sein. Und prompt weigerte sich der neue Papst, in den Apostolischen Palast zu ziehen, sondern installierte eine Parallel-Kurie im Gästehaus des Vatikans. Er setzte die Stärkung der zentrifugalen Kräfte fort: Franziskus erweiterte die Zahl der "Exoten" im Kardinalskollegium, eröffnete das Jahr der Barmherzigkeit mitten in Afrika und verordnete der Kirche mehr Synodalität, die man erst anhand der fälligen Kurien-Reform genauer wird einschätzen können, von der es aber schon Kostproben gibt. Verunsicherungen setzten ein: "Amoris laetitia" hatte einen Flickenteppich von nationalen Wegen beim Umgang mit Wiederverheirateten zur Folge, die Nicht-Entscheidung des deutschen Kommunionstreits stellte den Ortsbischöfen jeweils eigene Wege frei, und die Amazonas-Synode wollte die Figur des Indigenen zum Paradigma der ganzen Kirche machen. Der Synodale Weg in Deutschland ist Ausdruck des Gefühls, Rom segne nun auch nationale Sonderwege ab. Widerstände gegen das Pontifikat, wie sie sich im amerikanischen

Katholizismus oder bei afrikanischen Kirchenführern formieren, erhalten ihr Gegengewicht durch eiserne Franziskus-Anhänger, die sich seinen Primat der Pastoral vor der Lehre auf die Fahnen geschrieben haben. Die Kirche ist gespalten.
Guido Horst

 

Verschärfte Glaubenskrise

Ein Großteil der deutschen Katholiken geht von 2010 19 auf Selbstprotestantisierungskurs. Mit dem Bekanntwerden von Fällen sexueller Gewalt im Canisius-Kolleg 2010 erreicht die Debatte um Missbrauch in kirchlichen Institutionen die Heimat Luthers. Unverhüllt wird die dringend notwendige Aufarbeitung des Skandals auch von kirchlichen Verantwortungsträgern instrumentalisiert, um Forderungen der 60er und 70er Jahre durchzudrücken. Fünf Jahre Dialogprozess von 2011 2015, Memoranden, der Anbiederungskurs der Deutschen Bischofskonferenz im Rahmen des Reformationsgedenkens 2017, der Münsteraner Katholikentag 2018 als Generalprobe für die Spaltung, der Streit der Bischöfe um die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion und die Ankündigung des "Synodalen Wegs" sind Stationen einer sich an die Welt anpassenden Institution. Alle Versuche, sich in der postchristlichen Gesellschaft als ebenso anschlussfähig wie der Protestantismus beweisen zu wollen, verfangen beim Kirchenvolk allerdings nicht. Die Kirchenaustrittszahlen schnellen auf Rekordhöhe, während Glaubensinhalte für viele Getaufte immer belangloser werden. Der Aufruf von Maria 2.0, der Sonntagsmesse fernzubleiben, veranschaulicht, wer quantit  n gligeable in der Reformdebatte ist: Christus selbst.

Zugleich ist es das Jahrzehnt der kreativen Minderheiten. Während der teilweise konfliktreichen Umstrukturierung der Pfarreien bestätigen die Gläubigen mit den Füßen die Evangelisierungsansätze Benedikts XVI.: Eucharistische Anbetung, Volksfrömmigkeit und die würdig gefeierte Liturgie verzeichnen Zulauf.  
Der Schlagzeile von Kardinal Marx "Wir sind keine Filialen von Rom" steht die stille Missionsarbeit jener gegenüber, die Kinder, Schüler und Asylbewerber oft ohne Rückhalt der Hirten für den Glauben an Christus gewinnen wollen.
Regina Einig

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