Leben

Wo der Passionsgesang flott ist

Italiens östlich-byzantinische Tradition: Unterwegs im griechischen Salento. Von Martin Leidenfrost
"Kalimera na sas ipo" Gesang in Martano
Foto: Kristína Leidenfrostová | „Kalimera na sas ipo“: Gesang in Martano.

Da wir das Land mit der Hauptstadt Rom als westlich-katholisch wahrnehmen, vermag die Existenz einer östlich-byzantinischen Tradition in Italien zu verblüffen. In der Logik der Längengrade erscheint das schon naheliegender: Der Salento, der Absatz des italienischen Stiefels, liegt östlich von Deutschland und auch östlich von Österreich, fast auf der Höhe von Tschenstochau, also tief im Osten. Von Otranto sieht man an klaren Tagen die albanischen Berge, die Straße von Otranto ist nur 72 Kilometer schmal, Korfu ist nicht viel weiter.

Auf dieser flachen, windumtosten, rechts und links und vorne von Meeren umspülten Halbinsel liegt die „Grecia Salentina“. Die angestammte Sprache dieses Landstrichs ist „Griko“, ein altertümlicher Dialekt des Griechischen mit italienischen Lehnworten. Folgende Gemeinden bilden den Kern: Martano, Castrignano dei Greci, Corigliano d'Otranto, Melpignano, Soleto, Sternatia, Zollino, Martignano. In der Osterzeit locken die Passionsgesänge ins apulische Griechenland – „I Passiuna tu Cristu“ werden auf Griko gesungen.

Byzanz beherrschte Teile des Salentos fast fünf Jahrhunderte. Er war dünn besiedelt, der Boden war steinig, die Adriaküste versumpft, aber strategisch war der Stiefelabsatz von hohem Wert. Mönche des Ostens zogen in Wohnhöhlen, Städte wurden gegründet, mehrere Einwanderungswellen griechischsprachiger Bevölkerung wurden geholt. Während des byzantinischen Bilderstreits kamen die „Ikonodulen“, Ikonen verehrende Mönche ins Salento. Auch ihnen verdanken sich byzantinische Fresken, besonders in den Krypten der Kirchen, etwa der rote Erzengel Gabriel in Carpignano. In Apigliano wurde ein byzantinisches Bauernhaus ausgegraben, mit dem typisch frühchristlichen Pelikan-Symbol.

Seit Antritt der Normannen im 11. Jahrhundert war die Obrigkeit katholisch. Der byzantinische Bischofssitz Otranto wurde mit Katholiken besetzt, katholische Orden errichteten feste Klöster. Weiterhin lasen aber Popen für das durchwegs griechisch sprechende Volk die orthodoxe Liturgie. Das wurde respektiert. Auch wenn diese etwas anderen Katholiken nie als Ketzer angesehen wurden, schlug den Popen mit der Gegenreformation die Stunde. In Calimera – der Ortsname bedeutet auf Griechisch „Guten Tag“ – geht die Legende, dass der letzte orthodoxe „Papas“ ermordet wurde. Dieser Mord ist nicht belegt, auf jeden Fall endete die Parallelexistenz der Orthodoxie ums 17. Jahrhundert herum.

Die Landschaft der Grecia Salentina ist leicht zu beschreiben – ein einziger Olivenhain. Das sind nicht linear gepflanzte Neuplantagen wie weiter im Norden, sondern alte, von losen Steinmauern begrenzte Haine. Fährt man im Mittagslicht durch, schimmern die Blätter silbrig. Fährt man in der Nacht durch, springen die verknorpelten Bäume wie Hexen ins Bild.

Eine schöne Eigenheit sind die „Furni“, konisch-pyramidale Steinhäuschen in den Olivenhainen, ganz ohne Fugmasse errichtet. Es war zähe Kleinarbeit, tausende Steine passgenau aufzuschichten, dafür waren die Furni nützlich: Sie dienten als Lager und als Kühlschrank, diejenigen mit Außentreppchen erleichterten das Besteigen von Pferden, und mancher Kleinbauer soll sich bis spät am Abend in seinem Furno ausgeruht haben.

„Kalos irtate stin Grecia Salentina“, grüßt eine Tafel an der Landstraße, „willkommen im salentinischen Griechenland“. Griko wird in lateinischer Schrift geschrieben. Ohne das Engagement weniger Enthusiasten wäre die Sprache schon ausgestorben: Der erste Schlag war der Erste Weltkrieg, als die hiesigen Soldaten Italienisch lernen mussten. Dann die Migration. Der Genickschlag kam nach dem Zweiten Weltkrieg – die italienische Schule. Martano ist das kleine Hauptstädtchen. Es erinnert an die hitzetoten mexikanischen Städte aus Graham Greenes „Die Kraft und die Herrlichkeit“. In allen Grautönen gealterter Stein, selbst Parkbänke mit ihren figural gemeißelten Lehnen sind aus Stein, dazwischen Palmen und Kakteen. Auf den Flachdächern verzierte Brüstungen des Typs „Mignano“, von dort oben nahm die salentinische Frau am Stadtleben teil. Gemäß einer verbreiteten These wurde das Salento von Kreta her besiedelt. Dazu würde die hiesige Hausform passen, die auch im Osten Kretas dominiert: ein Hof, und jeder erstgeborene Sohn baut für seine Familie einen winzigen Würfel dazu. So brachten es einige Höfe in Martano auf 14 bis 15 Familien.

Spricht man Martaner auf Griko an, etwa die strengen reifen Beamtinnen des Arbeitsamts, geht ihnen schlagartig das Herz über. Griko haben sie von den Eltern gehört, im nahen Griechenland waren sie nie, manchmal probieren sie ihr Griko aber an griechischen Reisegruppen aus. Der Bäcker Antonio Guglielmo ist ein Enthusiast. Während der Mittagspause, die im äußersten Südosten Italiens bis 16 Uhr dauert, hat er die Brote in Stoffsäcke verräumt, fürs Griechische hat er aber immer Zeit. Er fährt gerne nach Griechenland, „kann mich ziemlich problemlos mit Griechen verständigen“, auf Kreta war er noch nicht. Er lobt das Griko-Wörterbuch, das ein verstorbener Mönch des Martaner Zisterzienserklosters verfasst hat. Laut dem Bäcker wird Griko, in absteigender Form, noch am ehesten in Sternatia, Martano, Calimera und Martignano gesprochen.

Unbestritten am griechischsten ist Sternatia. Ein 600-jähriger Olivenbaum, eine „Caffeteria Greco“ und in der „Crazy Bar“, der wohl billigsten Schenke Italiens und Marco Chiriaco, 43. Als er zur Schule ging, schimpften die Lehrer noch, wenn sie Griko hörten, „vor etwa zwanzig Jahren änderte sich das. Da begriffen sie, dass die Sprache verschwindet.“ Chiriaco verehrt den verstorbenen Schriftsteller Cesare De Santis, der auf einem Fahrrad durchs Dorf fuhr, um sein erstes Buch zu verteilen. „Als ich in die erste Klasse ging, sagte meine Mutter zu mir: Marco, wenn du singst, dann sing nur auf Griko! Als De Santis das hörte, umarmte er mich vor der Schule, mit Tränen in den Augen.“ Ansonsten hat Marco hier nur noch sieben Freunde, mit denen er Griko spricht.

Der Passionsgesang, der nur am Palmsonntag erklingt, ist in der Grecia Salentina ein Fixpunkt. Der Star des Genres ist ein einäugiger 92-Jähriger in Zollino, in den anderen Dörfern kommen weniger Schaulustige. Der Text unterscheidet sich leicht von Dorf zu Dorf, er hat 65 oder 66 Strophen. Mit einer Prozession ist er nicht mehr verbunden.

In Martano wird der Passionsgesang auch bereits am Vorabend gesungen, in der Rosenkranzkirche. Nach der Abendmesse treten sieben Leute vor den Altar, hauptsächlich Kinder, nicht besonders feierlich gekleidet. Ein Mädchen spielt sitzend das Akkordeon, die anderen stehen und singen. „Kalimera na sas ipo“, beginnt der ältere Leadsänger, „euch allen einen guten Tag/ ich erzähle euch von der Passion/ und von den Schmerzen unseres Herrn.“ Den nächsten Vierzeiler singt der Chor, sie wechseln sich ab.

18 Personen hören zu, eine Frau singt leise mit, zwei weitere lesen mit, auch die italienische Übersetzung. Der Leadsänger untermalt die Handlung mit einfachen Gesten, fast im Stil von Bauerntheater. Überhaupt klingt dieser Passionsgesang nicht besonders traurig, die 65 Mal wiederholte Melodie ist recht flott.

Den jungen Sängern wird das lang, einer kratzt sich an beiden Ohren. Sie singen eine Sprache, die sie sich erst langsam in Kursen aneignen. Aber dank ihnen dürfte sich das Byzantinische im Italienischen noch eine Weile halten.

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