Alterung der Gesellschaft

Zeitbombe Demografie

Die Alterung der Gesellschaft erfordert ein radikales Umdenken in der Wirtschaftspolitik.
Coronavirus - Argentinien
Foto: dpa | Immer mehr Menschen gehen in den wohlverdienten Ruhestand – wodurch Arbeitskraft und Knowhow verloren gehen. Die Politik muss handeln.

Die immer wieder geführten Diskussionen um Klimawandel und Corona-Krise haben ein wichtiges Thema in den Hintergrund gerückt. Hier liegt aber der größte Sprengstoff für Wirtschaft und Wohlstand: die rasante Alterung unserer Gesellschaft. Gerade erst hat das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) eine Studie vorgelegt, die aufhorchen lässt.

Baby-Boomer bald geschlossen im Ruhestand

Im Jahr 2030 wird die Zahl der 20- bis 64-jährigen Menschen in Deutschland im Vergleich zu 2020 rund elf Prozent niedriger sein. Im Hinblick auf den zunehmenden Fachkräftemangel ist die Zahl alarmierend. Viele Menschen, die in den kommenden Jahren in Rente gehen werden, allen voran die Generation der Baby-Boomer, können dann nicht mehr durch Nachwuchskräfte ersetzt werden.

Die Antwort des IW auf diese Entwicklung lautet: in großem Maße Zuwanderer gewinnen. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Bisherige Erfahrungen zeigen, wie schwierig sich der Integrationsprozess gestaltet. So veröffentlichte die Bundesagentur für Arbeit im Juli eine Studie, die Aussagen darüber trifft, inwieweit Zuwanderer in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selber zu bestreiten. Das Ergebnis ist ernüchternd: Gerade bei der Bevölkerungsgruppe der Syrer, von der viele Menschen vor allem im Jahr 2015 als Asylbewerber nach Deutschland kamen, erschrecken die Zahlen – fast zwei Drittel aller erwerbsfähigen Syrer lebt ganz oder teilweise von Hartz IV.

Mit 65 Prozent war der Anteil der Bezieher staatlicher Unterstützung unter Zuwanderern aus Syrien im März dieses Jahres deutlich höher als unter Ausländern aus anderen Hauptherkunftsländern von Asylbewerbern wie etwa Somalia oder Afghanistan. Und wie aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit weiter hervorgeht, bezogen 37,1 Prozent der Somalier im erwerbsfähigen Alter im gleichen Zeitraum Hartz-IV-Leistungen. Unter den Afghanen lag der Anteil bei 43,7 Prozent. Die Studie der Arbeitsagentur erklärt den relativ hohen Anteil von Leistungsempfängern unter anderem mit oft fehlenden formalen Qualifikationen von Geflüchteten sowie der Beschäftigung in Bereichen mit „Entlohnung im unteren Entgeltbereich“.

Schwierige Integration

Ganz so leicht tut sich unser Land also dann doch nicht mit der Integration der vor gut sechs Jahren zugewanderten Menschen. Möchte man mit Zuwanderung dem demographischen Wandel entgegenwirken, dann kann es nicht nur um Argumente gehen, die sich ausschließlich auf die Anzahl beziehen. Vielmehr müssen stärker als bisher die Fähigkeiten der zugewanderten Menschen in den Fokus gerückt werden. Länder wie Kanada oder Australien können hier gut als Vorbild dienen: Fachkräfte werden dort tatsächlich angeworben, indem eine entsprechende Plattform etabliert wurde, die weltweit für interessierte Fachkräfte zur Verfügung steht. Auf dieser wird genau erklärt, wie Zuwanderung geregelt ist und in welchen Branchen Fachkräfte gesucht werden. Außerdem werden dort Jobangebote gemacht und die Menschen darauf vorbereitet, was sie im Einwanderungsland erwartet, indem zum Beispiel Sprachkurse schon in den Herkunftsländern vermittelt werden. Davon ist Deutschland im Moment aber noch weit entfernt.

Lesen Sie auch:

Es gibt aber auch einen weiteren Aspekt: Statt sich auf die weitere Einwanderung von Fachkräften zu konzentrieren, sollte sich der Fokus auf die bereits hier lebenden Menschen richten. Das heißt, erstens, eine Großoffensive zur Qualifizierung der Geflüchteten, leichtere Anerkennung von schulischer und betrieblicher Ausbildung, der Aufbau eines Mentorsystems, in dem Einheimische bei Behördengängen oder Bewerbungen behilflich sind. Einwanderung in die Sozialsysteme kann keine Lösung für die Überalterung unserer Gesellschaft sein.

Kompetenzen stärken

In der Zukunftsdebatte darf man auch die Veränderungen der Arbeitswelt durch Di-gitalisierung, Automatisierung und KI, also Künstliche Intelligenz, nicht vergessen. In den kommenden Jahren wird sich in der hiesigen Arbeitswelt viel verändern. Hierarchien werden flacher, Erwerbsformen flexibler und mobiler; langsam löst sich zudem dank Remote Work und Home Office Arbeit von der Präsenzpflicht vor Ort. Corona hat sich hier auch noch einmal als Antreiber erwiesen. Hinzu kommt, dass vor allem einfache Tätigkeiten, für die es nur eine geringe Qualifikation braucht, schon heute im Umbruch sind. Roboter und Computer ersetzen immer mehr solche Tätigkeiten, die extrem monoton sind und ungern von Menschen erledigt werden möchten.

Jedoch: Wo es bislang keinen technischen Ersatz gibt, werden Tätigkeiten, die von Geringqualifizierten erledigt werden, schon heute schlecht bezahlt. Das Problem wird noch verstärkt, weil Deutschlands Niedriglohnsektor außergewöhnlich groß ist: Jeder fünfte Beschäftigte (rund 20 Prozent) arbeitet auf Mindestlohnniveau oder verdient nur geringfügig mehr. In den skandinavischen Ländern, den Niederlanden oder Frankreich ist die Quote nur halb so hoch. Klar ist: Diese Menschen lassen sich nicht einfach in qualifizierte Tätigkeiten einbinden. Vielmehr müssen sie durch Fortbildungen und lebenslanges Lernen in den Arbeitsmarkt der Zukunft eingliedert werden.

Ausbau der Digitalisierung

Hierfür ist ein Ausbau der Digitalisierung nötig. Doch für Deutschland besteht gegenwärtig die Gefahr, dass es bei der Digitalisierung international den Anschluss verliert. Eine Studie des European Center for Digital Competitiveness in Berlin aus dem September bescheinigt: Deutschland fällt im technologischen Wettrennen weiter zurück. Demnach ist unser Land im internationalen Vergleich zum zweiten Mal in Folge auf dem vorletzten Platz der G7-Staaten gelandet. Zieht man den Kreis noch etwas größer, steht Deutschland auch unter den 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern weit abgeschlagen an drittletzter Stelle. Länder wie Frankreich und Italien haben sich noch einmal verbessert und finden sich auf 9 sowie Platz 8. China, Brasilien, Argentinien und sogar die Türkei oder Indonesien liegen im Spitzenbereich und damit weit vor Deutschland.

Schon die Corona-Pandemie hat große Schwächen offengelegt, insbesondere in der öffentlichen Verwaltung. So waren die Gesundheitsämter oft überfordert und setzten eher auf Faxgeräte als auf moderne Kommunikationsmittel, um Infektionsketten zu verfolgen. Noch größer aber ist das Versagen des Staates zu bewerten, wenn es darum geht, der Jugend digitale Kompetenzen zu vermitteln. Deutschland muss sich bewegen, wenn es zukunftsfähig sein möchte – viel Arbeit für die Ampel-Koalition.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Stefan Rochow Demographischer Wandel G7-Staaten Integration Sozialsysteme Stefan Rochow Wirtschaftspolitik Überalterung der Gesellschaft

Weitere Artikel

Ein Plädoyer für eine realitäts- und faktengestützte Familienpolitik.
06.12.2022, 11 Uhr
Franziska Harter
Aufgrund des durch die Pandemie erzwungenen Digitalisierungsschubs und des Fachkräftemangels haben Menschen mit Behinderungen bessere Jobchancen.
12.12.2022, 15 Uhr
Heinrich Wullhorst

Kirche

Das ZdK glaubt, in der Absage des Heiligen Stuhls zu Laientaufe und Laienpredigt ein Interesse Roms an Zielsetzungen des Synodalen Weges zu erkennen.
31.03.2023, 15 Uhr
Meldung
In der 23. Folge des „Katechismus-Podcasts“ der „Tagespost“ spricht Margarete Strauss von der Einheit zwischen Altem und Neuen Testament.
31.03.2023, 14 Uhr
Meldung
Der Vatikan schreibt erneut an den DBK-Vorsitzenden Bätzing und erteilt zentralen Synodalforderungen eine Absage. Der Sprecher der Bischöfe betont, im Gespräch bleiben zu wollen.
30.03.2023, 16 Uhr
Meldung