Meine vier Geschwister und ich hatten als Kinder im Advent die Angewohnheit, vom ersten Adventstag an Strohhalme in einer noch leeren Krippe zu sammeln, damit das Christkind an Weihnachten weich und bequem zu liegen käme. Unsere Großmutter hatte uns diesen Brauch, von ihrer Großmutter wiederum übernommen, ans Herz gelegt. Für jeden von uns stand auf der Kommode im Wohnzimmer eine kleine leere Krippe und daneben ein Becher mit Strohhalmen: Immer, wenn man eine gute Tat getan oder sogar ein Opfer gebracht hatte, auf etwas verzichtet hatte um des Jesuskindes willen, durfte man einen Strohhalm in die Krippe legen. Schummeln war natürlich streng verboten! In den letzten Tagen vor Weihnachten wurden die Anstrengungen nochmals verdoppelt, sollte doch der kleine Jesus möglichst weich liegen, gewärmt durch unsere kleinen guten Taten im Advent.
Von Franz von Assisi lernen
Genauso entstand einst der moderne Sozialstaat: Als der heilige Franz von Assisi 1223 zum ersten Mal in einer Grotte in Greccio im Rietital nördlich von Rom mit einigen armen Schafhirten der Umgebung eine lebende Krippe darstellen ließ, da hatte er exakt den Gedanken, durch die Krippe und den Anblick des armen Gotteskindes unsere Liebe zu Jesus in jedem armen und kleinen und notleidenden Menschen zu befeuern und wenn möglich sogar zu verdoppeln. „Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“… Und der große Theologe des Franziskanerordens, der heilige Bonaventura, bringt es in seinem Kommentar zur Kindheitsgeschichte im Lukasevangelium genauso auf den Punkt: Wir leben in diesem Leben wie im Advent; wir sollen gute Taten der Liebe sammeln; wir zeigen damit unsere Liebe zu Jesus in der Krippe; wir sammeln gerade so Schätze im Himmel. Weihnachten wird nämlich unmittelbar nach unserem Tod sein, wenn wir diesem Jesus gegenüberstehen und dann hoffentlich nicht mit leeren Händen und leeren Ölkrügen, sondern mit einigen Strohhalmen der Liebe und einigen Tropfen Öl der Barmherzigkeit! Und an einen solchen Strohhalm, und sei es auch nur ein einziger, können wir uns dann getrost klammern.
Taten der Liebe
Unendlich viel hat der Franziskanerorden zur Entwicklung des modernen Sozialstaates beigetragen, vor allem aber diese Erkenntnis geliefert: Das jetzige Leben des Christen ist wie ein einziger Advent vor dem ewigen Weihnachtsfest der Gemeinschaft mit Gott. Und dieser Advent muss angefüllt werden mit Taten der Liebe, mit sozialer Wohlfahrt, mit Aufmerksamkeit auf die am Rand der Gesellschaft lebenden Menschen. In Familie und Freundschaften – und auch im Staat: Denn auch der Staat wird vor Gott erscheinen müssen und Rechenschaft ablegen darüber, was er dem Geringsten getan hat – in Verantwortung vor Gott und den Menschen! Und wer ist dieser Staat? Kein Leviathan, sondern jeder einzelne von uns! Also auf ans fröhliche Strohhalmsammeln
Der Autor ist Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach. Die Kolumne erscheint in Kooperation mit der KSZ.
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