Am 1. April 2005, einen Tag vor dem Tod von Papst Johannes Paul II., hielt Kardinal Joseph Ratzinger seinen letzten Vortrag vor dem Beginn des Konklaves zur Wahl des neuen Papstes, aus dem er dann als Papst Benedikt XVI. hervorging. Diese Rede aus Anlass einer Preisverleihung zählt zu den bedeutendsten und zugleich berühmtesten Reden aus mindestens drei Gründen: Ratzinger spricht zum letzten Mal als Kardinal, wie in einer Zusammenfassung seines theologischen und politischen Denkens; er spricht am Ursprungsort der Benediktiner und des Lebens des heiligen Benedikt, des Patrons Europas, dessen Name er wenige Tage später annehmen wird; er spricht über ein christliches Europa. Oder genauer: Ratzinger spricht über ein Europa, das nach Jahrhunderten der Gottvergessenheit jetzt einmal wenigstens so tun sollte, als gäbe es Gott. „Als gäbe es Gott“ heißt auf Latein: „Etsi Deus daretur“, und das genaue Gegenteil hatte der niederländische Jurist und Philosoph Hugo Grotius während des entsetzlichen Dreißigjährigen Krieges, der ursprünglich zwischen Katholiken und Protestanten tobte, gefordert: Das Recht und die Gesetze müssen gelten, selbst wenn es Gott nicht gäbe! Soll heißen: Auch ohne die Erkenntnis Gottes und den Glauben an ihn kann der Mensch – selbst der Heide und der Atheist – erkennen, was gut und böse ist.
Die Reduzierung der Vernunft auf Technik
So weit, so schlecht. Denn seitdem wurde Europa ja keineswegs besser, sondern, zumindest bis zum Regime der Nationalsozialisten und ihrer Massenvernichtung von Menschen, eher schlechter. Und selbst in der langen Friedenszeit nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich der blutige Krieg im ehemaligen Jugoslawien, bis hin schließlich zum Überfall Russlands auf die Ukraine. Und woran liegt das?
Ratzinger sagt: an der Reduzierung der Vernunft auf Technik! An der Reduzierung der Moral auf richtiges Funktionieren. Denn eine rein technische Vernunft hat als Kriterium nur das Funktionieren des Menschen vor Augen. Behinderung ist hinderlich und muss vermieden werden, Leid ist zu vermeiden, ebenso Opfer und Verzicht und Treue und ständige Vergebung. Wenn es Gott nicht gibt, ist der Ehrliche und der Treue der Dumme – und wer will das schon sein? Wenn es aber Gott gäbe, dann gäbe es einen, der jenseits dieses kurzen Lebens jeden Menschen in der Ewigkeit erwartet und von jedem Menschen nicht einfach funktionierendes Überleben, sondern liebevolles Leben als Vorbereitung der Ewigkeit Gottes erwartet. Und erst so entsteht Moral.
Näher an den Rand des Abgrunds
Ratzinger bringt es am Ende seines letzten Vortrags vor der Papstwahl für Europa auf den Punkt: „Der zum Äußersten geführte Versuch, die menschlichen Dinge unter vollständigem Verzicht auf Gott zu formen, führt uns immer näher an den Rand des Abgrunds, zur gänzlichen Zurückstellung des Menschen. Wir müssten also das Axiom der Aufklärer auf den Kopf stellen und sagen: Auch derjenige, dem es nicht gelingt, den Weg zur Annahme Gottes zu finden, sollte dennoch versuchen, so zu leben und sein Leben so auszurichten, als ob es Gott gäbe.“ Also Mut zum Kopfstand und so leben, als gäbe es Gott und seine ewige Liebe zu jedem Menschen.
Wer so lebt, verliert nichts und gewinnt alles. Und genau das wäre der einzigartige Auftrag Europas!
Der Autor ist Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle.
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