Er soll „Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung“ aufzeigen, aber „ohne Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen“. Die Rede ist vom „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, auch genannt „die Wirtschaftsweisen“. Das fünfköpfige Gremium gilt als das einflussreichste unabhängige Beratungsgremium der Bundesrepublik in wirtschaftlichen Fragen, und ist, wie der eingangs zitierte gesetzliche Auftrag schon vermuten lässt, jedes Jahr mit einer diffizilen Angelegenheit befasst. Einerseits sollen wissenschaftlich neutral Gestaltungsoptionen aufgezeigt werden, ohne politische Schlagseite zu entwickeln. Andererseits gleichzeitig Fehlentwicklungen als solche erkannt und vor allem benannt werden, was naturgemäß ein Minimum an normativer Vorfestlegung bedingt.
Monika Schnitzer, die Vorsitzende des Rates, legte den Auftrag bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts in der vergangenen Woche jedenfalls recht selbstbewusst aus. Die Vorschläge des Gremiums ermöglichten ein „Ankommen im 21. Jahrhundert“ und ermächtigten Frauen, für sich selbst zu sorgen. Folgt man Schnitzers Ausführungen, ist dies derzeit noch nicht gewährleistet: Die (gleichwohl über dem europäischen Durchschnitt liegenden) Erwerbstätigenquote von 73,1 Prozent bei Frauen zwischen 15 und 64 Jahren, rund sieben Prozentpunkte weniger als bei den Männern, und eine Teilzeitquote von immerhin 47 Prozent, sei das Ergebnis von „Fehlanreizen“. Die „besseren Anreize“, die aus den Reformvorschlägen für Ehegattensplitting, Witwenrente und Kinderbetreuung resultierten, würden Frauen durch vermehrte Erwerbsarbeit helfen, „dass sie in ihrer Partnerschaft, ich sag´s ganz klar, auch eine bessere Verhandlungsposition haben“.
Die Mehrarbeit, die nach der Vorstellung der Wirtschaftsweisen auf Frauen (wie auch auf ältere Arbeitnehmer) zukommen sollte, ist allerdings nicht primär gleichstellungspolitisch begründet. Tatsächlich prognostizieren die Wissenschaftler Deutschland gleich auf mehreren Ebenen eine düstere Zukunft. Nach Ende der derzeitigen Rezession erwarten Schnitzer und ihre Kollegen nur 0,4 Prozent jährliches Wachstum des „Produktionspotentials“ (also des bei normaler Auslastung möglichen Bruttoinlandsprodukts) bis 2028. Auch darüber hinaus gehen die Wirtschaftsweisen nur von 0,7 Prozent aus. Zwischen 2000 und 2019 betrug das entsprechende Wachstum dem Gutachten zufolge noch 1,4 Prozent pro Jahr. Wichtigste Ursache für das schwache Wachstum sei der demographische Wandel, der für einen Rückgang des Arbeitsvolumens sorge.
Die Babyboomer gehen in die Rente – jetzt
Dass der Wirtschaft weniger Arbeitnehmer zur Verfügung stehen dürften, hat darüber hinaus auch Auswirkungen auf das Rentensystem. Man befinde sich, so der Bochumer Demographie-Experte Martin Werding, „in einer Situation, wo die demographische Alterung, die ja schon länger unterwegs ist, aber jetzt ein paar Jahre pausiert hat, vor einem nächsten starken Schub steht“. Durch den Renteneintritt der Babyboomer während der nächsten 15 Jahre verschlechtere sich „die Relation zwischen denjenigen, die das gesetzliche Rentensystem finanzieren, und denjenigen, die Leistung erwarten, sehr stark“. Davor habe der Rat schon in den vergangenen Jahren mehrfach gewarnt, doch die Politik habe „das Thema in den letzten Jahren ein bisschen schleifen lassen“. Für Schnitzer ist die Untätigkeit der Politik kein Wunder. Rentenreformen seien eben „kein Thema, mit dem man Wahlen gewinnt“. Die Lasten würden jedoch höher – „einer muss sie übernehmen“. Tatsächlich gehen die Wirtschaftsweisen davon aus, dass ohne Reformen der Beitragssatz zur Rentenversicherung von derzeit 18,6 Prozent auf 20,9 Prozent 2035 steigen wird – bei gleichzeitig ebenfalls deutlich gestiegenem „Bundeszuschuss“, der seit langem das Finanzloch der Rentenversicherung mit Steuergeld stopft.
Was also tun, um den wirtschaftlichen und demographischen Problemen zu begegnen? Mehr arbeiten, länger arbeiten, mehr Zuwanderung, mehr investieren, besser finanzieren, stellenweise umverteilen. „Sehr unangenehme Entscheidungen stehen an“, urteilt die Energieökonomin Veronika Grimm. Mit der 455 Seiten starken Expertise helfe man den Politikern, mal „im Wind stehen zu bleiben“. In der Tat dürfte es nicht leicht sein, dem Wähler die vorgeschlagenen Maßnahmen schmackhaft zu machen. Bei der anvisierten Steigerung der Frauenerwerbsquote steht neben einer ausgebauten Kinderbetreuung eine Reform des Ehegattensplittings im Vordergrund.
Derzeit zahlen Ehepaare für ihr gemeinsames Einkommen so viel an Steuern als würden beide gleich viel verdienen, was in der Praxis aufgrund des mit dem Einkommen steigenden Steuersatzes zu umso mehr Steuerersparnis führt, je ungleicher das tatsächliche Einkommensverhältnis ist. Dadurch ist es für den Geringverdiener in der Ehe vergleichsweise unattraktiv, mehr zu arbeiten – ein „Fehlanreiz“, für dessen Beseitigung die Forscher mehrere Optionen vorschlagen, die zumeist auf eine Streichung des Splittings und die ersatzweise Gewährung spezieller Freibeträge hinauslaufen.
Drei Varianten für massive Kürzungen
In der Rentenpolitik schlagen die Ökonomen im Wesentlichen drei Rentenkürzungsvarianten vor. Durch eine Anhebung des Renteneintrittsalters alle zehn Jahre um sechs Monate könnte das Verhältnis von durchschnittlicher Rentenbezugsphase zur Beitragsphase, das sich durch die steigende Lebenserwartung immer weiter verschlechtert, in etwa konstant gehalten werden; die abschlagsfreie Frührente für diejenigen, die bereits 45 Beitragszahlerjahre hinter sich gebracht haben, solle entfallen. Möglich wäre zweitens eine Rentenkürzung über die Erhöhung des „Nachhaltigkeitsfaktors“, der bereits in der aktuellen Rentenformel den Rentenanstieg bremst, wenn sich das Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern zu ungünstig entwickelt. Alternativ könnte der Rentenanstieg statt wie bisher an die Lohnentwicklung grundsätzlich nur noch an die Entwicklung des Preisniveaus gekoppelt werden – Renten würden dann real gar nicht mehr steigen. Weitere Entlastung des Systems versprechen sich die Autoren von „intragenerationeller Umverteilung“: eine „progressive Rentenberechnung“ könnte ähnlich wie im Steuersystem dafür sorgen, dass gut verdienende Beitragszahler am Ende etwas weniger bekommen als bisher, und armutsgefährdete Rentner am unteren Ende der Einkommensskala etwas mehr.
„Wenn man den Rentnern nichts wegnimmt, dann nimmt man automatisch der Jugend was weg“, begründet die Vorsitzende Schnitzer die Vorschläge der Ratsmehrheit. Allerdings: Zwei der fünf Wirtschaftsweisen haben abweichende Einzelmeinungen begründet. Grimm befürchtet, dass der Abschied vom Äquivalenzprinzip (wer viel einzahlt, bekommt viel heraus) der Akzeptanz der Rentenversicherung schwächen könnte. Zudem könne man im Steuersystem besser zielgenauer umverteilen. Dem Duisburger Ökonomen Achim Truger hingegen sind die Vorschläge zur Rentenpolitik „zu radikal“. Die insgesamt massiven Kürzungen führten dazu, dass für viele Beschäftigte „die Lebensstandardsicherung über die gesetzliche Rente de facto beendet wird“.
Milderung der demographischen Krise
Bleibt als Alternative zur Milderung der demographischen Krise noch: Einwanderung. 250 000 Einwanderer pro Jahr sind im „Referenzszenario“ des Sachverständigenrates sowieso schon unterstellt, 578 000 Migranten kamen durchschnittlich während der letzten zehn Jahre. Eine Nettozuwanderung von 400 000 „durchschnittlich integrierten“ Zuwanderern (von denen 70 Prozent erwerbstätig wären) könnte das Produktionspotential stabilisieren und das Rentensystem vorübergehend entlasten. Um jedes Jahr einen Nettozuzug von 400 000 Menschen zu erreichen, müssten allerdings „brutto“, um den Wegzug zu kompensieren, jedes Jahr kontinuierlich etwa 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland ziehen, meint Grimm, und fügt hinzu: „die Dimensionen sind irgendwie da“. Ob sich derartige Steigerungen absehbar leichter verkaufen lassen als Rentenkürzungen, wird spannend zu beobachten sein.
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