Die Zusatzbeiträge für gesetzlich Krankenversicherte steigen im kommenden Jahr um 0,3 Prozent. Die Erhöhung der Zusatzbeiträge stellt dabei jedoch nur einen Bestandteil des Maßnahmenpakets dar, das Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf den Weg bringen will, um das für 2023 erwartete Kassen-Defizit von knapp 17 Millionen Euro auszugleichen. Neben den erhöhten Zusatzbeiträgen soll dabei einerseits auf Rücklagen der Krankenkassen zurückgegriffen werden, andererseits auf Steuergelder, ein Darlehen des Bundes und Effizienzsteigerungen.
Lauterbach gibt seinem Amtsvorgänger die Schuld
Die Entstehung des Defizits lastet Lauterbach seinem Vorgänger Jens Spahn (CDU) und dessen Kollegen im Merkel-Kabinett an. Spahn hätte „teure Leistungsreformen“ durchgeführt und Strukturreformen gemieden, sodass dann in der Pandemiezeit das Defizit entstanden sei. Doch die Maßnahmen, mit denen Lauterbach das Finanzloch nun schließen will, gelten bei vielen als umstritten – insbesondere Kassenärzten und Krankenkassenvertretern. So betonen Uwe Klemens und Susanne Wagenmann, Verwaltungsrats-Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, in einer Pressemitteilung, dass die Große Koalition den „Weg der soliden und nachhaltigen Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung für die 73 Millionen gesetzlich Versicherten verlassen“ hätte – die neue Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf jedoch zugleich die Chance vertan habe, „die immer wieder nur ins nächste Jahr schauende, kurzatmige Sonderfinanzierung zu beenden und zu einer soliden und nachhaltigen Finanzierung zurückzukehren“. Stattdessen würde die nun notwendig gewordene Konsolidierung der Finanzsituation auf Kosten der Beitragszahler erfolgen.
Beitragserhöhungen sind ein falsches Signal
Nicht nur aufgrund der Erhöhung des Zusatzbeitrages – der zwar paritätisch durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer entrichtet wird, aber je nach Krankenkasse in seiner konkreten Höhe variieren kann –, sondern auch wegen des Rückgriffes auf Liquiditätsreserven der Krankenkassen, die letztlich aus den Taschen der Beitragszahler stammten. „Die von der Bundesregierung geplanten Beitragserhöhungen sind angesichts steigender Energiekosten, Inflation und höherer Lebensmittelpreise ein fatales Signal“, schlussfolgern Klemens und Wagenmann. Sie mahnen an, das Vorhaben der Bundesregierung übermittle die Botschaft, es lohne sich nicht, für schlechte Zeiten vorzusorgen, weil der Staat das zurückgelegte Geld am Ende bloß umverteilen würde.
In einer gemeinsamen Pressemitteilung sprachen die Verbände der Krankenkassen darüber hinaus von einem „von Maßnahmen“, welche die Finanzierungslücke nur notdürftig stopfen würden. Auch sie werfen Lauterbach vor, Politik auf dem Rücken der Beitragszahler zu betreiben. Scharfe Kritik provoziert auch die von Lauterbach geplante Streichung der Neupatientenregelung, die Spahn 2019 eingeführt hatte, um Ärzten finanzielle Anreize für die Behandlung neu aufgenommener Patienten zu verschaffen. Denn während GKV-Spitzenverband-Chefin Doris Pfeiffer gegenüber „Bild“ die Regelung als eine „Zusatzvergütung“ bezeichnete, die zu „keiner feststellbaren Verbesserung der Versorgung“ geführt habe, sieht Andreas Gassen, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Nachteile für GKV-Patienten im Verzug. Diese müssten sich, wie Gassen gegenüber „Bild“ erklärte, „neben höheren Kassenbeiträgen auch auf weniger Leistung in Form von längeren Wartezeiten für Arzttermine einstellen“. Dabei handle es sich um eine zwangsläufige Folge, wenn man den Ärzten bei steigenden Kosten durch Inflation und höheren Löhnen in den Praxen das Honorar kürze.
Die Demografie sorgt für zusätzliche Schieflagen
Eine über die tagespolitische Debatte hinausweisende Perspektive auf das Thema vermittelt der Ökonom Jochen Pimpertz vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Wiederholt verwies er in seinen Publikationen auf Auswirkungen der demografischen Schieflage auf die GKV und die mangelnde Berücksichtigung des Problems seitens der Parteien. In den kurzfristigen Sparpläne Lauterbachs sieht Pimpertz in einem IW-Beitrag als „ein ambitioniertes Unterfangen, wenn gleichzeitig die angemahnten Leistungsausweitungen nicht zurückgenommen werden“. Und „selbst wenn Strukturreformen ein solches Volumen generieren könnten“, beanspruche die Umsetzung Zeit. Bisherige Strukturreformen seien „im Regulierungsdickicht des deutschen Gesundheitssystems versickert“, so Pimpertz. Zudem würden die GKV-Ausgaben seit der Wiedervereinigung pro Kopf jahresdurchschnittlich um gut einen Prozentpunkt schneller steigen als die beitragspflichtigen Einkommen der Versicherten. Zwar erodierten letztere – „zumindest bislang“, wie Pimpertz ermahnt – noch nicht, aber dennoch stünde „jetzt nicht weniger als das Versprechen des Gesetzgebers, eine Versorgung auf dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft vollumfänglich solidarisch zu finanzieren“ auf dem Prüfstand.
Ausweg durch Begrenzung?
Denn neben dem steten medizinischen Fortschritt belaste auch die demografische Entwicklung Deutschlands die GKV. Mit der Alterung der geburtenstarken Jahrgänge würden „nicht nur jene Altersklassen stärker besetzt, die altersbedingt überdurchschnittlich hohe Leistungsausgaben“ verursachten, erklärt der IW-Ökonom. Gleichzeitig gelte auch für einen steigenden Anteil der Versicherten, dass sie weniger Beiträge zahlen würden als während der Zeit ihrer Berufstätigkeit, weil die Rente niedriger ausfalle als das Gehalt. „Ist es nun solidarisch“, fragt Pimpertz, „wenn die nachwachsenden Generationen immer höhere Beiträge zur Umverteilung leisten?“
Denn bei höheren Beitragssätzen steige für sie der Finanzierungsanteil, von dem immer mehr Menschen im Alter profitieren würden. Einen Ausweg sieht Pimpertz in einer Begrenzung der solidarischen Finanzierung, „gepaart mit dem schrittweisen Aufbau einer zweiten, kapitalgedeckten Finanzierungssäule“. Der Ansatz birgt jedoch die latente Gefahr, dass solche punktuellen Liberalisierungen das Solidaritätsprinzip – und somit das Fundament der gesetzlichen Krankenversicherung – langfristig untergraben. Um die Demografie kommt man also kaum herum.
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