Sozailversicherungssystem

73. Deutschen Juristentag: Wie die Zukunft der Rente aussehen kann

Auf dem 73. Deutschen Juristentag wurden zahlreiche Reformideen für das überlastete Rentensystem diskutiert.
Rentenversicherung erwartet «ordentliches Plus» bei Rente in 2020
Foto: dpa | Einen buchstäblichen Ruhestand nach Maß fordert der 73. Deutsche Juristentag von der Politik – und macht hierfür zahlreiche Vorschläge.

Angesichts der demografischen Entwicklung steht die gesetzliche Rentenversicherung vor großen Herausforderungen: Die erwerbstätige Bevölkerung schrumpft, während die Lebenserwartung im Vergleich zu den Anfängen des Umlageverfahrens deutlich gestiegen ist. Damit gerät die gesetzliche Alterssicherung mehr und mehr an ihre Grenzen.

Keine Beitragserhöhungen oder Leistungsabsenkungen

Wie ihre Zukunft aussehen könnte, war Thema auf dem 73. Deutschen Juristentag (DJT) in Bonn. Unter Vorsitz von Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts (BSG), befasste sich die Fachabteilung Arbeits- und Sozialrecht zunächst mit Grundsatzfragen – danach wurden der Übergang in den Ruhestand, der versicherte Personenkreis, auskömmliche Renten auch für Geringverdiener sowie flankierende Altersvorsorgesystemen in den Blick genommen. An die Teilnehmer aus allen juristischen Berufen appellierte der Gutachter und emeritierte Rechtsprofessor Heinz-Dietrich Steinmeyer, sich von der Unlust der Politik, Reformen vorzunehmen, nicht abschrecken zu lassen: „Wir sind nicht das Parlament, sondern die Anreger. Wir haben die Aufgabe, Punkte anzusprechen, die die Politik vielleicht nicht gerne hören will. Lassen Sie uns den Mut haben, hier Dinge zu ordnen und vorzuschlagen, die vielleicht nicht jedem gefallen, die aber anregen und Ordnungsrufe sind.“

„Eine Revolution hat insoweit nicht stattgefunden.“ Rainer Schlegel

Insgesamt 18 Thesen zu Herausforderungen und Regelungsbedarf im Kontext von Altersvorsorge und Demographie wurden angenommen. Die Beschlüsse des DJT können sich sehen lassen, meint Rainer Schlegel im Gespräch mit der „Tagespost“. „Im Einzelnen bleiben die Reformvorschläge im Rahmen der bekannten Pfade, auf denen sich die Altersvorsorgesysteme schon immer bewegen. Eine Revolution hat insoweit nicht stattgefunden.“ So soll die gesetzliche Rentenversicherung weiterhin möglichst weitgehend aus Beitragsmitteln finanziert und das Versicherungsprinzip weiter gestärkt werden. Mit großer Mehrheit spricht sich der Deutsche Juristentag gegen eine Absenkung des Sicherungsniveaus aus. Die Renten sollten so ausgestaltet sein, dass nach langjähriger Vollzeitbeschäftigung ein Rückgriff auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung vermieden werden kann. Außerdem wendet sich der DJT gegen einen höheren Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung, aber auch generell in der Sozialversicherung. Als Grenze wird insoweit ein Gesamtsozialversicherungsbeitrag von 40 Prozent des Bruttoeinkommens genannt. Auf die Einziehung weiterer Einkunftsquellen der Versicherten in die Beitragsbemessung wie etwa Mieteinkünfte sollte verzichtet werden.

Renteneintrittsalter ab 20230 erhöhen

Mit der Absage an Beitragserhöhungen und Leistungsabsenkungen komme nur noch die Erhöhung des Renteneintrittsalters als stabilisierender Faktor in Betracht, erläutert Schlegel. Diese soll ab 2030 erfolgen. Besonders hervorheben möchte der BSG-Präsident die Forderung, dass alle Selbständigen Altersvorsorge betreiben müssen. In die gesetzliche Rentenversicherung sollen demnach alle Erwerbstätigen einbezogen werden, die erstmals oder erneut eine selbständige Tätigkeit aufnehmen und nicht Mitglied in einem obligatorischen Alterssicherungssystem sind. Befreiungsmöglichkeiten von der gesetzlichen Rentenversicherung sollen immer an den Nachweis einer gleichwertigen privaten Altersvorsorge geknüpft sein. Rechtsanwälte sind von diesem Vorschlag nicht betroffen, da ihre Altersvorsorge über ein berufsständisches Versorgungswerk organisiert wird. Im Vorfeld war in der Anwaltschaft Unruhe entstanden, weil Schlegel auf einem Vortrag und in der „Neuen Zeitschrift für Sozialrecht“ angeregt hatte, das Verhältnis von gesetzlicher Rentenversicherung, Beamten- und Anwaltsversorgung grundsätzlich zu betrachten. „Der Deutsche Juristentag wollte von dieser Diskussion nichts wissen“, sagt Schlegel rückblickend. Sein Denkanstoß habe keine große Resonanz erfahren.

Die Juristen behandelten aber die sogenannte Nachversicherung. Wenn ein Beamter den öffentlichen Dienst verlässt, wird er in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert. Da die Systeme nicht aufeinander abgestimmt sind, ergeben sich deutliche finanzielle Nachteile, wie ein Teilnehmer des Juristentags anhand seiner persönlichen Erfahrungen schilderte. „Es fehlt an der Durchlässigkeit der Systeme“, kommentiert Schlegel gegenüber der „Tagespost“. Biographien würden zementiert, obwohl Wirtschaft und Staat von einem Wechsel aus dem einen in den anderen Bereich profitieren könnten. Der DJT spricht sich daher für eine Reform der Nachversicherung und die Einführung eines flächendeckenden Altersruhegeldes ohne Abschläge in allen Bundesländern aus. Beim Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst sollte ein Alterseinkommen, das dem bisher erreichten Versorgungsniveau entspricht, gewährleistet sein.

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Hinzuverdienstgrenzen abschaffen

Des Weiteren sollen Hinzuverdienstgrenzen für vorgezogene Altersrenten mit Abschlägen abgeschafft werden. „Deutschland ist angesichts des derzeitigen Arbeits- und Fachkräftemangels mehr denn je darauf angewiesen, dass alle Arbeitskapazitäten und Arbeitspotenziale ausgeschöpft werden“, sagt Schlegel dazu. Eine klare Signalwirkung habe auch der Beschluss, dass für geringfügig Beschäftigte ein sogenanntes „Opt Out“ (Befreiung von der Versicherungspflicht) ausgeschlossen werde. Die Anordnung einer Versicherungspflicht mit gleichzeitiger bedingungsloser Befreiungsmöglichkeit sei ein Widerspruch in sich. „Aus der geringfügigen Beschäftigung kommen die Menschen oftmals nicht mehr heraus. Dann ist Altersarmut vorprogrammiert, es sei denn, man hat Vermögen oder einen Ehegatten, der das auffängt.“

Drei Säulen

Eine deutliche Lücke im Gutachten bemängelt Ulrich Becker, Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in München. Er weist daraufhin, dass eine umlagefinanzierte Alterssicherung nicht nur auf der Beteiligung von zwei Generationen, den Leistungsbeziehern und den Beitragszahlern beruhe, sondern auf der von drei. „Denn damit die heute Beitragszahlenden künftig ,in Rente gehen‘ können, müssen Kinder aufwachsen, die als dritte Generation dann ihrerseits durch Beiträge die später zu zahlenden Renten finanzieren werden“, heißt es in seinem Begleitaufsatz für die „Juristenzeitung“. Der Zusammenhang zwischen Altersversorgung und Kindererziehung als „,unterem Ende‘ der Demographie“ bleibe unerwähnt.

In der Tat diskutierte der DJT lediglich über die Anrechnung von Kindererziehungszeiten bei Rechtsanwälten - diese werden bislang in der gesetzlichen Rentenversicherung angesiedelt. Nach kontroversen Wortmeldungen sprach sich der DJT schließlich dafür aus, die Koordinierung der obligatorischen Alterssicherungssysteme (Berufsständische Versorgung, Beamtenversorgung) mit der Gesetzlichen Rentenversicherung zu verbessern. Dabei sollten Kindererziehungszeiten unlimitiert bei allen kindererziehenden erwerbstätigen Versicherten zu gleichwertigen Rentenanwartschaften führen. „Das war in erster Linie ein Appell an die berufsständischen Versorgungswerke“, erklärt Schlegel. Kraft eigener Satzung oder über den Landesgesetzgeber könne die Anrechnung der Kindererziehung direkt in der Anwaltsversorgung erreicht werden.

Denkanstoß durch das Bundesverfassungsgericht

Auf die Frage, ob Generationengerechtigkeit gerade nach dem Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht generell mitgedacht werden müsste, bezeichnet Schlegel den „verfassungsdogmatisch sehr innovativen“ Beschluss als „Denkanstoß“. Der höchste Sozialrichter der Republik ist überzeugt, dass der Kerngedanke des Beschlusses auch in anderen Bereichen fruchtbar gemacht werden könne und solle. Das Gericht hatte 2021 entschieden, dass das Klimaschutzgesetz bereits jetzt „eingriffsähnliche Vorwirkung“ entfalte und „eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit “ begründe. Das Grundgesetz verpflichte daher „unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtlich geschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“. Auf die Sozialversicherungen übertragen, folgert Schlegel, Beiträge und Lasten müssten bei der gegenwärtigen und künftigen Generation verhältnismäßig verteilt werden. Denn Beiträge schränkten Freiheitsrechte genauso ein wie Restriktionen etwa zum Schutz des Klimas.

Realistisch gesehen, stünden die Sozialversicherungen aber in der gegenwärtigen politischen Lage in Konkurrenz zu Energiebeschaffung und Kosten für die äußere Sicherheit. Die sozialen Sicherungssysteme sollten sich „auf das Wesentliche beschränken“. Schlegel befürwortet ein Mehr an Eigenverantwortung und Subsidiarität. „Was brauche ich wirklich?“ laute auch nach dem 73. Deutschen Juristentag die große Frage für Politik und Gesellschaft.

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