Der Zachäus weht

Seit jeher wird im Allgäu am dritten Oktoberwochenende Kirchweih gefeiert. Heute sind die religiösen Feierlichkeiten jedoch längst nicht mehr so bedeutungsvoll wie einst. Eine Erinnerung an die Bräuche des Kirchweihfestes. Von Karl-Heinz Wiedner
Wenn rote Fahne mit weißen Kreuz vom Kirchturm grüßt, ist Kirchweihsonntag
Foto: Mechthild Wiedner | Wenn die rote Fahne mit dem weißen Kreuz vom Kirchturm grüßt, ist Kirchweihsonntag.

Wenn im Herbst die Tage merklich kürzer und kühler werden, die Nebel über die Flussniederungen wabern und der Sturm die bunten Blätter über die abgeernteten Felder treibt, freut man sich vielerorts im Allgäu auf den Kirchweihsonntag am dritten Oktoberwochenende. Er wird in der Regel „Kirbe“ oder „Kirta“, abgeleitet vom „Kirchtag“, genannt, wobei er sich aber in mancherlei Hinsicht gewandelt hat. Kirbe auf dem Land ist lange nicht mehr so bedeutungsvoll wie einst, werden aber doch noch wenigstens im festlichen Gottesdienst und vielerorts beim anschließenden gemütlichen Beisammensein Erinnerungen wach.

Besonders lustig wurde es auf vielen Allgäuer Bauernhöfen immer dann, wenn eine gute Ernte eingebracht war. Die Bauern hatten für ihre Feldfrüchte Geld erhalten, Mägde und Knechte waren ausbezahlt und wechselten die Herrschaft. Nach dem Schlachten genoss man auf dem Hof nun eine Verschnaufpause, nicht minder die Kinder, die den Sommer über mit aufs Feld mussten und für die danach wieder regelmäßiger Schulunterricht angesagt war.

Das Kirchweihgeläut und die Kirchweihfahne, der allerorts so genannte „Zachäus“, wehte aus dem höchstgelegenen Kirchturmfenster. Dieses Brauchtum verkündete bereits am Samstag das alljährliche, liturgisch begangene Erinnerungsfest an die Weihe der Pfarrkirche der Gemeinde. Dieses Fest fand zu örtlich unterschiedlichen Terminen am jeweiligen Jahrestag des Kirchenpatrons statt. Selbst der Montag galt noch als arbeitsfreier „Bauernfeiertag“.

Acht Tage zuvor hatte im Allgäu der Kirta-Bitter geladen und verkündete das Zeremoniell. Strohkränze und Tannengrün, kleine Fähnchen, bunte Kugeln und Girlanden schmückten mit flatternden langen Fahnen den Platz beim Gotteshaus. In der Sonntagspredigt wies der Pfarrer auf den tieferen Sinn der Kirchweih hin und ermahnte die Gläubigen, die Feiern nicht etwa zügellos ausarten zu lassen.

An die Kirche schloss sich das wichtigste ländliche Jahresfest an. Man räumte dem Gesinde ungewohnte Freiheiten ein. Als Volks-, Gemeinde- und Familienfest wurde der Kirta zum Inbegriff ausgelassener Freuden und Vergnügungen. Getanzt wurde ununterbrochen zu Klängen der Allgäuer Musikanten, „bis die letzte Kerze niedergebrannt war“. Ward zufällig am Kirchweihsonntag ein Kind im Ort geboren, wurde es nach der Taufe zum „ständigen Ehrengast“ jeder weiteren Kirta auserkoren. Zur Erinnerung an die im letzten Wirtschaftsjahr Verstorbenen durften die durch Gebete versöhnlich gestimmten Seelen „mittanzen und feiern“. Jeder musste sich allerdings nach altem Brauch hüten, beim Tanz „den Toten auf die Füße zu treten“, um bösen Geistern keinen Zugang zum Fest zu ermöglichen.

„Die eigentliche Kirchweih“, berichtet ein Allgäuer Pfarrer, „war vor langer, langer Zeit ein sehr lebendiger, unwiederbringlicher Brauch. Er verlor zusehends an Bedeutung, als Knechte und Mägde mit Beginn des 20. Jahrhunderts immer seltener wurden und die Mechanisierung der Landwirtschaft einsetzte.“ Aus dem Kirchenfest entwickelte sich das ländliche Volksfest schlechthin. Trinken im Freien und im Wirtshaus, das Kirbeschießen, Spiele, Kräfte messen, Kegeln und Frohsinn gehörten zum Freizeitvergnügen der Kirchweih, während man an langen Tischen die Verwandten und Nachbarn mit Braten, Kücheln oder Kirchweihzöpfen bewirtete. Das Bier floss reichlich, der Obstler auch, beim abendlichen Tanz „konnte sich die Jugend erlaubtermaßen näher kennenlernen“. Kramerstände mit Süßigkeiten, Karussells und Schiffschaukeln kamen in Mode und lockten Mädchen und Buben an. Von Fest zu Fest wandernde Händler boten lustiges Kinderspielzeug, Textilien und Brauchbares für Küche, Haus und Hof an.

Ein anderer früher im Allgäu gepflegter Brauch handelt vom „Spendbrot“, wie bei Karl Reiser nachzulesen ist. Die Bäuerin buk Brotleibe, „das so genannte Spendbrot, das für die Armen bestimmt war. Nach dem Rosenkranz am Vorabend des Kirchweihfestes wurden die Laibe vom Pfarrer gesegnet und in der Sakristei an Arme und Alte verteilt.“

Heute hat die alte Herrlichkeit ihren Glanz verloren, der Kirchweihmontag ist längst zum Arbeitstag geworden. „Altem Brauch gemäß hängt man zwar noch in vielen Allgäuer Gemeinden „den Zachäus“ zur Kirta weiterhin ins oberste Kirchturmfenster, und der Pfarrer geht im Festgottesdienst auf Kirchweih ein“, so ein Geistlicher, aber statt einer anschließenden großen Feier mit Rummel und Biergarten „wird der Tag eher mit einem Beisammensein als Pfarrgemeindeabend beendet“. Dass die Kirchenfahne, der „Zachäus“, aber immer noch „zur Allerweltskirmes“ oder zum örtlichen Erinnerungsfest an den Kirchenpatron weht, hat seine eigene Geschichte. Bei der Fahne handelt es sich um ein rotes Fahnentuch mit weißem Kreuz darauf, dessen Name biblischen Ursprungs ist.

Allgäuer Volkskundler erklären dazu: „Das Evangelium der Kirchweih spricht von diesem Zachäus, der auf den Baum stieg, weil er so klein war.“ Demzufolge ist im 19. Kapitel des Lukasevangeliums (LK.19,1 – 10) nachzulesen, wie der reiche Zöllner Zachäus in Jericho auf einen Maulbeerbaum gestiegen war, „denn er war klein von Person“ und er begehrte, Jesus im Vorüberziehen besser sehen zu können.

Vom höchsten Glockenturmfenster flatterte in Anlehnung daran deshalb gewöhnlich ab dem Einläuten des Kirchtagsfestes am Samstag um 14 Uhr „der Zachäus“, den der Mesner zum Ehrentag des Kirchenpatrons hisst. In früheren Zeiten war das für die Dorfjugend ein Signal, sich vor der Kirche einzufinden und gleichzeitig herabgeworfene Süßigkeiten aufzulesen.

Dass jede Pfarrkirche früher zu einem anderen Datum ihres Patrons gedachte und ein eigenes Kirchweihfest beging, missfiel den Kirchenoberen. Sie beklagten „die fortwährenden Feste zu unterschiedlichen Terminen in nahe beieinander gelegenen Orten, die häufig zu Trinkgelagen, Spiel und Raufereien verführen“ und ordneten im Rahmen des Vatikanischen Konzils für jede Pfarrei an, die keinen eigenen Kirchweihtag feiert, reine Kirmes- oder Kirtafeste nur noch „überall gleichzeitig am dritten Oktobersonntag“ als Festlichkeit zu begehen. So wird vielerorts im Allgäu beispielsweise das Erinnerungsfest an den eigentlichen Tag der Pfarrkirchenweihe unter Hissen des „Zachäus“ am 6. Oktober eines jeden Jahres mit einem Festgottesdienst, aber ohne großes Vergnügungsparkl begangen. Die „offizielle“ Kirta am dritten Oktoberwochenende spielt dann für die Gemeinde keine Rolle mehr, auch wenn zum Beispiel vom Gotteshaus in Thalkirchdorf bei Oberstaufen zu diesem Tag der unverändert weithin sichtbare „Zachäus“ weht.

Beging man die Kirta einst im Allgäuer Land häufig traditionell mit bestimmten Zeremonien, im Rahmen derer Bischöfe und Priester Kirchen mit geweihtem Wasser besprengten und Altäre mit Salböl einrieben, so brachte die Liturgiereform von 1969 viele Änderungen hinsichtlich weltlicher Zugeständnisse mit sich.

Wenn auch viele Überlieferungen im Laufe der Jahre verloren gegangen sind, hat sich neben dem Gottesdienst in zahlreichen Pfarrgemeinden im Voralpenraum noch das eine oder andere Kirchweihbrauchtum erhalten, das die Kirchtagsfeierlichkeiten nicht nur zum reinen Volksfest oder Rummel ausarten lässt. Diese Gefahr besteht, wenn alte Bräuche weiter in Vergessenheit geraten und wenn von Kirmes, Kerwe, Kirchweih oder Kirta unversehens nur noch laute Jahrmärkte mit vielen Attraktionen des Vergnügungsgewerbes übrig bleiben. Steht man altem Brauchtum gleichgültig gegenüber, dürfte es auch nicht mehr allzu lange dauern, bis in allen Allgäuer Gemeinden zum letzten Mal der zur Feier einladende „Zachäus“ am Kirchturmfenster flattert und darunter die im eigentlichen Sinne traditionelle echte Kirta zur Erinnerung an die Weihe der Kirche leidet.

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