Osteuropa

Das Kindergesicht der Armut

Armut, Elend und Verwahrlosung quälen nicht nur die Menschen in den Entwicklungsländern dieser Welt, sondern sind auch Geißeln der gesellschaftlichen Ränder mitten in Europa. Ein Lokalaugenschein in den Roma-Siedlungen vor unserer östlichen Haustür .
Spielplatz von Marpod
Foto: Martin Kolozs | Gespenstische Stille herrscht auf dem Spielplatz von Marpod.

Wenig länger als eine Flugstunde von Wien entfernt liegt Sibiu. Die rumänische Metropole mit ihren einhundertfünfzigtausend Einwohnern ist noch heute ein Zentrum der Siebenbürger Sachsen und war im Jahre 2007 eine der Kulturhauptstädte Europas sowie 2019 Gastgeber von siebenundzwanzig Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Man könnte also meinen, Hermannstadt, wie Sibiu auf Deutsch genannt wird, liegt ebenso im Blick wie in der Verantwortung der europäischen Gemeinschaft, deren sechs Grundwerte auch die Achtung der Menschenwürde und den Schutz von Minderheiten beinhalten. Jedoch, wie schrieb schon der englische Schriftsteller George Orwell in seiner dystopischen Fabel Animal Farm: „Alle sind gleich, nur manche sind gleicher.“ Und so befinden sich nur dreißig Kilometer hinter der Stadtgrenze von Sibiu, mit seiner kostspielig und aufwendig sanierten Innenstadt und den pulsierenden Wirtschaftsvierteln, wo sich auch deutsche und österreichische Großunternehmen niedergelassen haben, die Elendssiedlungen und windschiefen Behausungen der Roma. Hierher wurde ich von einem christlichen Sozialwerk eingeladen, um mir einen Eindruck darüber zu verschaffen, was Analphabetismus, Alkoholismus, körperliche und sexuelle Gewalt, Hunger und Arbeitslosigkeit nicht nur in den Zahlen einer nüchternen Statistik bedeuten, sondern welche unmittelbaren Folgen diese Hypotheken einer gesellschaftlichen Ungerechtigkeit vor allem für die Kinder haben.

Christliches Engagement gegen Armut

Nach der Landung auf dem Aeroportul Internaţional Sibiu wurden ich und drei Unterstützer des Sozialwerkes abgeholt und nach Marpod gefahren. Die Gemeinde zählt aktuell etwa achthundert Einwohner und wirkt auf den ersten Blick wie im Sterben begriffen: die Hauptstraße besteht zum Großteil aus Schlaglöchern, die meisten Wohnhäuser sind verlassen oder baufällig, das Kirchengebäude ist seit langem geschlossen und auf dem Spielplatz dahinter herrscht gespenstische Stille. Es sind kaum Menschen im Freien zu sehen, und die wenigen, denen ich begegne, tragen Schnapsflaschen mit sich und schauen böse.

Im hiesigen Gemeinschaftshaus des Sozialwerkes sieht die Welt indes ganz anders aus: Man hat sich hier ein bescheidenes Paradies geschaffen, das einerseits als Erholungsraum für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dient, andererseits als ein Schutzraum für diejenigen offensteht, die Unterstützung oder Orientierung benötigen. Während des allabendlichen Gottesdienstes lerne ich ein paar Mädchen und Buben kennen, die erst kürzlich in das Hilfsprogramm aufgenommen wurden und nun die Schule besuchen oder eine andere Ausbildung machen können. Ihre Lebensgeschichten sind allesamt ein Schock für mich, denn sie erzählen von Krankheit, Tod und Gewalt in allen nur erdenklichen Erscheinungsformen. Von einem Mädchen höre ich zum Beispiel die Geschichte ihrer Freundin Paula; am Vortag wurde diese von ihren männlichen Angehörigen aus dem Unterreicht weg entführt, weil sie mit zwölf Jahren verheiratet werden sollte. Bei den Fürbitten beten alle für sie und ihre Familie, die wohl aus Zwang und Verzweiflung gehandelt hatte. Dabei fällt mir auf, dass alle Roma-Kinder, obwohl sie weniger als nichts haben und wohl zu den Ärmsten der Armen in Europa gehören, bei den Fürbitten mehr danken als erbitten, und ich schäme mich dafür, dass ich meinen Mund nicht aufbekomme.

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Kinder werden verheiratet

Am nächsten Tag fuhren wir ins etwa acht Kilometer entfernte Dorf Hosman. Hier betreibt das christliche Werk ein Sozialzentrum, ein Kinderhaus, einen Mütterclub und eine Küche mit Bäckerei, die täglich frisches Essen und Brot für ihre etwa hundertdreißig Schützlinge bereitstellt. Hier bot sich, neben dem Besuch der erwähnten Einrichtungen, auch die Gelegenheit zum Besuch bei einer Roma-Familie, die zu zehnt in einem Zimmer von nur neun Quadratmetern lebte; Vater und Kinder lagen zusammengepfercht in einem verdreckten Bett, die Mutter stand mit einem Säugling am Arm teilnahmslos neben der Tür. Es roch nach nassen Kleidern und altem Schweiß. Außer einem kleinen Tisch und einem altersschwachen Bollerofen gab es keine Möbel. Der Anblick der schlafenden Kinder trieb mir die Tränen in die Augen. „Wie alt ist sie?“, wollte ich über ein Mädchen wissen, dass gerade aufgewacht und mich unsicher angelächelt hatte. „Zehn Jahre“, hieß es; dabei war sie so groß wie ein Vierjährige. „Das ist wegen der Mangelernährung“, erklärte man mir später. Und ich dachte an die heilige Mutter Teresa von Kalkutta, die einmal gesagt hatte: „Wenn du keine hundert Menschen füttern kannst, dann füttere nur einen.“

Darauf wurden wir in ein nahe gelegenes Haus eingeladen, in welchem am Vorabend eine Verlobungsfeier stattgefunden hatte; die zukünftige Braut war erst zwölf, ihr Verlobter zehn Jahre alt. Das junge Mädchen machte keinen glücklichen Eindruck, zwang sich jedoch zu einem schmalen Lachen und versicherte (unglaubwürdig), dass alles in Ordnung sei. Dabei wurde sie von ihrer zwanzigjährigen Schwester in den Arm genommen, welche ebenfalls in diesem Alter verheiratet wurde und inzwischen acht Kinder geboren hatte.

Moderne Heilige des Alltags

Es sind Schicksale wie diese, die betroffen machen und sozial engagierte Menschen und Institutionen tätig werden lassen, indem sie Einrichtungen unterstützen oder diese selbst ins Leben rufen und über Jahrzehnte hinweg betreiben, um bedrohtes Leben zu retten, zu schützen und zu ermöglichen. Aber es braucht zweifellos mehr als diese modernen Heiligen des Alltags, um die eklatante Not, wie ich sie in den Roma-Siedlungen rund um Sibiu in Rumänien kennengelernt habe, zu beenden. Es braucht einen ebenso starken Willens- wie Kraftakt aller Menschen, die das Gebot der Nächstenliebe zu ihren Grundwerten zählen, und ebenfalls einen langfristigen Plan aller politisch Verantwortlichen, wie mit Minderheiten, die keine Lobby hinter sich wissen, respektvoll und zukunftsträchtig umgegangen werden soll. Dabei erinnere ich mich selbst an den heiligen Franz von Assisi, der sich trotz seiner inneren Widerstände unter Leprakranke begeben hat, um seine Vorurteile und Abneigungen gegen sie abzubauen, und der letztlich in ihnen Geschwister erkannte, welche zu pflegen und zu lieben ihm selbstverständlich wurde. Gleichermaßen müsste das Ziel im Umgang mit den Armen, Notleidenden und von der wohlhabenden Gesellschaft allzu oft Vergessenen lauten: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)

 

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