Herr Dreher, wir leben in turbulenten Zeiten – worin sehen Sie zurzeit die größte Bedrohung für die Menschheit?
Die größte Bedrohung scheint mir die instabile Definition der menschlichen Person zu sein. Ich halte die Gender-Ideologie in diesem Sinne für eine enorme Bedrohung. Wir glauben gerne an das Versprechen des Widersachers aus dem Paradies, dass wir wie Götter sein werden. Wir denken gerne, dass wir die vollständige Herrschaft über die materielle Welt besitzen. Das hört sich sehr abstrakt an, aber wir sehen es nicht nur im Missbrauch der Natur, sondern vor allem im Missbrauch des menschlichen Körpers. Wir glauben, dass wir das Recht haben sollten, unsere Kinder abzutreiben, damit wir die Kontrolle über unser eigenes Schicksal behalten, dass wir das Recht haben, unseren Körper und die Körper unserer Kinder zu verstümmeln, um Kontrolle auszuüben und den menschlichen Willen durchzusetzen. Das kann nur zu einer vollständigen Katastrophe führen. Hartmut Rosa schreibt in „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“ von Verzauberung und Entzauberung. Er sagt, dass wir die Welt entzaubern, indem wir versuchen, sie zu kontrollieren, indem wir sie mit unserem Willen umgeben und alle Bedeutung aus ihr heraussaugen. Das, was wir vollständig instrumentalisieren und entmystifizieren, hat aber keinen Wert mehr. Wir haben dies mit der Religion getan, mit der Sexualität, mit der Familie – wir werden es mit allem machen, und am Ende schaffen wir so die Hölle auf Erden.
Es heißt, die Vereinigten Staaten seien in diesen Fragen, insbesondere bei der Abtreibung, eine sehr gespaltene Nation. Warum ist das so?
Weil wir unseren christlichen Glauben verloren haben. Die Amerikaner waren schon immer auf irgendeine Weise gespalten. Wir haben einen Bürgerkrieg um die Sklaverei geführt. Aber als wir alle noch eine gemeinsame Religion hatten – auch wenn wir sie nicht praktizierten – sagte uns die Geschichte der Bibel, wer wir als Volk waren. Das ist jetzt vorbei, und an die Stelle Gottes und der Bibel haben wir das souveräne Selbst gesetzt. Und nun haben wir Menschen mit radikal unterschiedlichen Vorstellungen davon, wer der Mensch und was das Selbst sei, Vorstellungen, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Die, die das Land kontrollieren, ich nenne sie die „herrschende Klasse“, kontrollieren die Regierung, die großen Unternehmen, die Medien, alle Institutionen, die Medizin, sogar das Militär. Und sie sind „woke“. Das heißt, sie haben eine sehr repressive und illiberale Auffassung von Recht und Unrecht angenommen, die sich nicht mit dem vereinbaren lässt, was viele Menschen glauben, die eher rechts stehen oder altmodische Linke sind. Wenn man dies nicht miteinander in Einklang bringen kann, ist ein Konflikt unvermeidbar. Meine große Befürchtung ist, dass wir uns in den Vereinigten Staaten auf eine Situation zubewegen, wie sie in Spanien in den frühen 1930er Jahren vor dem Bürgerkrieg herrschte. Damals waren die Linke und die Rechte so gespalten, dass ein Bürgerkrieg unvermeidlich war, weil beide Seiten mehr Angst voreinander als Liebe zur Freiheit hatten. Hinzu kommt, dass wir uns spätestens seit den 50er Jahren daran gewöhnt haben, das eigene Ich und die eigenen Wünsche über alles andere zu stellen. Der große Sozialkritiker Philip Rief sah Mitte der 60er Jahre etwas wirklich Wichtiges. Er erkannte, dass der Westen im 20. Jahrhundert etwas durchgemacht hatte, das er die „therapeutische Revolution“ nannte. Wir hatten Tugend und Religion beiseitegelassen und wollten stattdessen vor allem glücklich sein. Dies sei, so Rief, eine revolutionärere Revolution als selbst die bolschewistische Revolution. Er schrieb, dass wir uns als Gesellschaft selbst zerstören werden, weil eine Gesellschaft, in der alle Menschen stets tun können, was sie wollen, keinen Bestand haben kann. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, in der Freiheit als grenzenlos definiert wird. Und das Ergebnis sehen Sie jetzt.
Alles hat seinen Preis, wie der Tavistock-Skandal zeigt – über tausend Familien verklagen die Klinik, weil sie bei ihren Kindern fälschlicherweise Geschlechtsdysphorie diagnostiziert und sie anschließend verstümmelt haben. Meinen Sie nicht, dass wir irgendwann erkennen, dass all dies Menschen schadet?
Ich hoffe es. Ich bete dafür. Aber damit das in meinem Land geschehen kann, müssen wir zunächst den Drachen der radikalen Selbstbestimmung erlegen. Die sexuelle Revolution hängt davon ab, dass die Menschen die völlige Freiheit haben, ihre Kinder abzutreiben und mit ihrem Körper zu tun, was sie wollen. Das ist die Logik der sexuellen Revolution. Wir haben in den USA eine ganze Gesellschaft, inklusive Wirtschaft, auf dieser Grundlage aufgebaut. Das ist schwer rückgängig zu machen. In Großbritannien gibt es keine religiöse Rechte. Die Gegenwehr gegen Tavistock erfolgte in erster Linie durch Feministinnen, die es satthaben, die sogenannten TERFs (trans-exclusionary radical feminists). Sie waren mutig, haben Druck gemacht. Das ist in den USA nicht der Fall. Jede Feministin, die sich gegen die Auslöschung von Frauen, um die es hier geht, wehrt, wird von der Linken als fundamentalistisch und transfeindlich beschimpft, weil der Widerstand gegen Gender-Ideologie und Transgenderismus mit der religiösen Rechten in Verbindung gebracht wird. In den USA müssten entweder Feministinnen ihre Stimme erheben, Menschen auf der Linken sich wehren oder wir müssen vor Gericht gehen. Wenn Krankenhäuser bankrott gehen, weil sie das Leben dieser Kinder zerstört haben, wird sich das Blatt wenden.Zurzeit hat die Transgenderlobby Oberwasser. Es gibt US-Bundesstaaten, die Gesetze erlassen, die es dem Staat ermöglichen, Eltern die Kinder zu entziehen, wenn diese mit der Transition des Kindes nicht einverstanden sind. Das ist totalitär. Und die Republikanische Partei, die eigentlich für die Rechte der Familie eintreten sollte, hat ihre Stimme in dieser Sache noch nicht gefunden.
Was hält sie ab, sich zu wehren?
Das ist mir schleierhaft, und es macht mich wütend. Einige Monate nachdem die Homo-„Ehe“ in die Verfassung aufgenommen wurde, hielt ich einen Vortrag vor einer Gruppe christlicher Mitarbeiter der Republikaner im Repräsentantenhaus und im Senat. Ich fragte sie: „Was werdet ihr tun, um die Religionsfreiheit der Kirchen und Schulen zu schützen, die sich dagegen wehren?“ Totales Schweigen. Ich dachte, sie hätten mich nicht verstanden und wiederholte meine Frage. Es war ihnen unangenehm. Schließlich sagte einer der Leiter, sie hätten keine Pläne. Ich verließ dieses Treffen mit dem Gedanken, dass wir gläubigen Christen wirklich auf uns allein gestellt sind. Diese Republikaner sagen zwar, dass sie auf der Seite der Christen stehen, aber in Wirklichkeit unterstützen sie nur, was das Großkapital will. Und es gibt so viele Seelsorger, die die Angst vor Kontroversen völlig lähmt.
Haben Sie ein Beispiel?
Vor zwei Jahren ging ich zu meinem eigenen Pfarrer, um mit ihm über die Gender-Ideologie zu sprechen. Ich sagte: „Vater, wir haben hier in unserer Stadt ein Problem. Wir müssen die Gemeinde vorbereiten.“ Und er sagte: „Nein, nein, keine Politik in der Kirche.“ Ich sagte: „Vater, es geht nicht um Politik, es geht um ein christliches Leben. Die Familie wird angegriffen.“ Er war sichtlich erschrocken über mein Anliegen. Und das nicht, weil er ein schlechter Mensch wäre, sondern aus Angst vor Konflikten. Angst ist das Problem. In Kalifornien, einem der liberalsten Staaten, hat der Vorsitzende der LGBT-Fraktion des Staates einen Gesetzentwurf eingebracht, der es illegal gemacht hätte, Bildungszuschüsse für arme Kinder an Schulen zu zahlen, die Homosexuelle diskriminieren – also LGBT nicht völlig befürworten. Wäre das verabschiedet worden, hätten etwa 100 kleine christliche Colleges entweder ihren Glauben ändern oder schließen müssen, weil sie auf Studenten angewiesen waren, die diese Stipendien nutzten, fast ausschließlich arme schwarze oder Latino-Kinder. Ein Freund von mir, Verwalter einer christlichen Schule, bat Pastoren der großen Kirchen in Orange County darum, die christlichen Schulen zu unterstützen. Alle teilten zwar das Anliegen, aber kein einziger dieser Pastoren wollte sich zu Wort melden. Das Gesetz wurde schließlich nur deswegen gestoppt, weil sich schwarze Pastoren der Pfingstgemeinde in Los Angeles dagegen aussprachen und der katholische Erzbischof von Los Angeles, ein Latino. Wir erleben immer wieder: Normale Bürger haben Angst, als voreingenommen bezeichnet zu werden und ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Und wissen Sie was? Das wird passieren. Man wird sie als Fanatiker bezeichnen, sie können ihren Arbeitsplatz und mit ihm ihren sozialen Status verlieren, aber was ist die Alternative? Sehen Sie sich an, was mit ihren, mit unseren Kindern passiert. Gott wird uns für unsere Feigheit zur Rechenschaft ziehen.
Was können wir tun, um die Menschen aufzuwecken?
Die Kinder von heute sind in einer hochtechnisierten Kultur aufgewachsen, die ihnen beigebracht hat, die gesamte Realität als formbar zu betrachten, als etwas, das wir nach unserem eigenen Willen gestalten können. Sie stellen das nicht infrage. Die Kirche ist für diese tiefgehende Bedrohung der Heiligkeit des Lebens blind geblieben. Eine totalitäre Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der nur eine politische Ideologie toleriert wird und alles im Leben politisch wird. Das erleben wir jetzt in den Vereinigten Staaten. Sogar auf Frühstücksflockenpackungen für Kinder steht, wie man mit den eigenen Pronomen spielt. Wir sehen auch, wie die Rassentrennung von den Progressiven vorangetrieben wird. Kürzlich traf ich einen Professor in Sarajewo, der mir sagte, er verstehe nicht, warum die Linke in den Vereinigten Staaten ständig auf Rassentrennung dränge. Sie bräuchten nur fünf Minuten darüber nachdenken, was mit Jugoslawien passiert sei, als die Menschen das taten. Wie können wir die Menschen dazu bringen, aufzuwachen? Ich wünschte, ich könnte die Menschen dazu bringen, den Einwanderern aus dem Sowjetblock Aufmerksamkeit zu schenken. Ich habe darüber ein Buch mit dem Titel „Lebe nicht von Lügen“ geschrieben, das von den Medien völlig ignoriert wurde. Denn die Botschaft der Menschen, die einen harten Totalitarismus erlebt haben, lautet: „Wacht auf – ihr erlebt jetzt eine weichere Version davon!“ Und es wird eure Freiheiten zerstören, wenn ihr sie nicht aufhaltet. Natürlich wollen die Medien davon nichts hören. Der Totalitarismus, mit dem wir jetzt konfrontiert sind, ist nicht wie George Orwells „1984“, sondern eher wie Aldous Huxleys ,Schöne neue Welt‘, ein Totalitarismus der Bequemlichkeit und Kontrolle, der Unterhaltung und Sicherheit – in Unfreiheit. Leiden ist ein wesentlicher Bestandteil des Menschseins und erst recht des Christseins, diese Botschaft aber wird von den Kirchen verschwiegen. Bleibt es dabei, wird das Christentum von dem, was kommen wird, vernichtet werden.
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