Philosophie

„Kritik der reinen Vernunft“: Genialer Wurf und epochale Fehlleistung

Kants Hauptwerk, die „Kritik der reinen Vernunft“, ist eine der größten Tautologien der Philosophiegeschichte.
Kant ist für die einen Zerstörer, für die anderen Retter der Metaphysik
Foto: IMAGO / H. Tschanz-Hofmann | Klassische Metaphysik und Erkenntnistheorie waren Kant weitgehend unbekannt.

Für die einen ist Kant Zerstörer, für die anderen Retter der Metaphysik. Er ist jedoch keines von beidem. Kant war der Meinung, es sei der Metaphysik noch in keiner Epoche gelungen, den Status einer gesicherten Wissenschaft zu erreichen, vielmehr präsentiere sie sich seit jeher als „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“. Das diskreditiere diese einstmalige Königsdisziplin unter den Wissenschaften in den Augen der überaus erfolgreichen modernen Naturwissenschaft und einer davon geprägten Welt. Kant war kein Anti-Metaphysiker, im Gegenteil, sein ursprüngliches Projekt war, die Metaphysik zu retten und sie definitiv als Wissenschaft zu etablieren. Doch führte ihn der Gang seiner intellektuellen Entwicklung schließlich zu der Einsicht, dass es Metaphysik als Wissenschaft nicht geben könne, und zwar wegen des Unvermögens unseres Verstandes außerhalb des Bereiches, der uns durch unsere Sinne gegeben ist, irgendetwas Objektives zu erkennen. Damit war die „Kritik der reinen Vernunft“ geboren.

Sie verkündet und begründet das Urteil über das, was Kant unter Metaphysik verstanden hat, nämlich eine von aller Erfahrung unabhängige Erkenntnis aus „reiner Vernunft“: Eine solche Wissenschaft, dies das Verdikt, kann es nicht geben. Dieser unserer Vernunft – der Vernunft endlicher Wesen –, so Kant, verlange es jedoch naturgemäß nach Antworten auf jene Fragen, über welche auf dem Kampfplatz der Metaphysik seit Jahrhunderten in „Dunkelheit und Widersprüchen“ gestritten werde: die Fragen nach Gott, der Welt als Ganzer und ihres Anfangs, die Frage nach der menschlichen Seele, und damit zusammenhängend die Fragen nach Freiheit und Unsterblichkeit. Um trotz moderner Wissenschaft und ihrer anti-metaphysischen Tendenz die Vernunft für diese Fragen, durch die sie auf Grund ihrer eigenen Natur „belästigt wird, die sie nicht abweisen … aber auch nicht beantworten kann“ (KrV A VII) offen zu halten, verwies Kant die Metaphysik aus dem Bereich der theoretisch-wissenschaftlichen in jenen der praktischen Vernunft, aus dem Bereich des Wissens und objektiven Erkennens in jenen des vernunftbestimmten Glaubens: „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ lautete dafür Kants berühmt gewordene Formel (KrV B XXX).

Objektive Erkenntnis von Wirklichkeit

Die Formel beinhaltet ein Doppeltes, nämlich dass es erstens dem menschlichen Erkenntnisvermögen verboten ist, Aussagen über das zu machen, was die sinnlich erfahrbare Welt übersteigt, oder solche Aussagen gar als objektive Erkenntnis von Wirklichkeit auszugeben; und dass es zweitens der Wissenschaft untersagt ist, die Möglichkeit der Existenz einer höheren, jenseits der sinnlichen Erscheinungen liegenden intelligiblen Welt, in der Gott, Freiheit und Unsterblichkeit Wirklichkeit sind, zu leugnen (vgl. KrV B 590 f.). Kant plädiert für strikte Arbeitsteilung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft.

Die Ideen Gottes, der Freiheit und der unsterblichen Seele bleiben für ihn zwar unverzichtbar, um die sinnlich erfahrbare Welt als ein sinnvolles Ganzes interpretieren zu können, haben dabei jedoch eine ausschließlich regulative Funktion, das heißt, sie unterstützen den Verstand in seinem forschenden Bemühen, ohne jedoch Erkenntnis irgendeines Gegenstandes in sich zu enthalten. Für die praktische Vernunft und die menschliche Freiheit sind diese Ideen hingegen als Postulate grundlegend für die Ermöglichung moralischen Handelns, besitzen demnach, ohne Erkenntnis von Wirklichkeit zu sein, eine Art subjektiver Wirklichkeit, haben also in gewisser Weise konstitutive Bedeutung.

Es wäre eine Illusion zu glauben, auf der Grundlage kantischer Philosophie sei so etwas wie Metaphysik weiterhin möglich. Wer sich ihr hingibt, übersieht die Grundstruktur und tiefe Ambivalenz des kantischen Denkens, sowie die innere Widersprüchlichkeit des Systems des transzendentalen oder „kritischen“ Idealismus. In Wirklichkeit verwirklichte Kant seine guten Absichten mit Mitteln, durch welche, trotz nützlicher, ja genialer Einsichten im Detail, die Philosophie insgesamt auf einen Weg gebracht wird, welcher in die erkenntnistheoretische Konfusion und schließlich in die metaphysische Wüste führt.

Sackgassen des „dogmatischen“ Rationalismus

Um seinen Plan einer „Kritik der reinen Vernunft“ zu verwirklichen, versuchte Kant die Philosophie seiner Zeit aus den Sackgassen des „dogmatischen“ Rationalismus der deutschen Schulphilosophie und des auf den britischen Inseln blühenden skeptizistischen Empirismus herauszuführen. Doch die von ihm angekündigte „gänzliche Veränderung der Denkungsart“ (Brief an Marcus Herz, 11. Mai 1781, Akad. Ausg. X, 269) vollzog sich, wie wir aus der historischen Distanz der Heutigen leicht erkennen können, unvermeidlicherweise gemäß der Logik, welche ihm die beiden zu überwindenden Denkrichtungen vorgaben.

Größe und Tragik Kants liegen deshalb darin, dass er zwar die Brüchigkeit der Philosophie seiner Zeit durchschaute, selbst aber von ihren Voraussetzungen und den von ihr gebotenen Denkmitteln abhängig blieb. Klassische Metaphysik und Erkenntnistheorie waren Kant weitgehend unbekannt und seine Vorstellungen darüber, was in der Philosophie vor Descartes geschehen war, sind als historisch unerleuchtet, ja abwegig zu bezeichnen. Sein Begriff von „Metaphysik“ als gänzlich von aller Erfahrung unabhängige Erkenntnis „a priori“, das heißt als Erkenntnis „aus reiner Vernunft“, ist zumindest vom Standpunkt der klassischen Metaphysik her gesehen absurd und seine Frage, ob eine solche Erkenntnis als „Wissenschaft“ überhaupt möglich sei, im historischen Kontext der rationalistischen Schulphilosophie zwar verständlich, von der Sache her aber überflüssig: Denn in Wirklichkeit kann es überhaupt keine von Erfahrung unabhängige Erkenntnis „aus reiner Vernunft“ geben, weder als Wissenschaft oder sonst wie. Unbeschadet ihrer unbestreitbaren Eleganz und Subtilität beruht deshalb Kants Kritik der reinen Vernunft auf einem Missverständnis darüber, was Metaphysik ist, und erweist sich damit trotz ihrer epochalen Wirkung letztlich als ein Schlag ins Wasser.

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Verstand ohne Einsicht in die Wirklichkeit der Dinge

Kant versuchte Rationalismus und skeptizistischen Empirismus dadurch zu überwinden, dass er beide miteinander kombinierte. Vom Empirismus wie auch vom Rationalismus übernahm er aber gerade, was an ihnen falsch war, vom Rationalismus nämlich die Überzeugung, es gebe erfahrungsunabhängige, apriorische, aus „reiner Vernunft“ stammende Strukturen des Erkennens, vom Empirismus hingegen die sensualistische These, es sei menschlicher Erkenntnis unmöglich, über das in der sinnlichen Anschauung Gegebene hinauszugehen.

Was an diesen damals dominierenden Denkrichtungen jedoch richtig war, lehnte Kant ab: das von Aristoteles stammende „empiristische“ Prinzip, im menschlichen Verstand könne nichts enthalten sein, was nicht zuvor in den Sinnen war; und die auch den Rationalisten bekannte klassische Lehre von der Fähigkeit des menschlichen Verstandes, das Seiende in seiner Intelligibilität (geistigen Erkennbarkeit) und damit in seinen notwendigen Wesensstrukturen „schauen“, das heißt: begreifen und erkennen zu können.

Kant hält dem entgegen: Der menschliche Verstand als solcher vermag nichts zu „schauen“ und deshalb auch nichts zu erkennen, das heißt er besitzt keine ihm spezifisch eigene Einsicht in die Wirklichkeit der Dinge und damit auch keinen unmittelbaren Zugang zu ihnen; der Verstand kann nur „denken“, das heißt gegebene sinnliche Anschauungen zur Einheit verknüpfen. Für eine solche Synthesis sinnlicher Mannigfaltigkeit liefert der Verstand a priori, das heißt aus sich selbst heraus, die Regeln, nämlich in sich inhaltsleere, rein formale Denkkategorien oder Begriffsmuster. Die Sinnlichkeit, die selbst kein Erkennen, sondern nur subjektive Wahrnehmung ist, liefert dem Denken des Verstandes in der Form raum-zeitlich gebündelter sinnlicher Anschauungen die Inhalte. Diese sind jedoch keine Manifestation der „Dinge an sich“, sondern nur subjektive Erscheinungen der zur äußeren Welt gehörenden Dinge. Kant brachte dies auf die berühmte Formel: „Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntniß entspringen. (…) Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV B75).

Brilliante Formel ohne Sinn

Die Formel ist brillant, macht aber keinen Sinn. So etwas wie „leere Gedanken“ kann es weder geben noch kann es gedacht werden, denn Gedanken sind immer Gedanken „von“ oder „über etwas“ – sonst sind sie eben nicht. Dass hingegen die Sinne nicht „denken“, ist trivial und tautologisch und zudem gibt es keinen Grund, sinnliche Anschauungen allein schon deshalb, weil sie keine Begriffe sind, „blind“ zu nennen. Wie wir alle überzeugt sind – Zweifel daran betrachtet man als mentale Störung oder gar Krankheit –, ermöglichen die äußeren Sinne die erste und fundamentale Öffnung des erkennenden Subjekts auf die ihm gegenständliche Welt hin: Sie tasten, fühlen, sehen, hören, riechen, schmecken und mithilfe der inneren Sinne werden die entsprechenden Perzeptionen zu anschaulichen mentalen Vorstellungsbildern verarbeitet, die natürlich immer „Erscheinungen“ im erkennenden Subjekt sind, uns aber dennoch grundlegende Informationen über die reale gegenständliche Welt liefern. Selbstverständlich sind – um ein Bild zu gebrauchen – seismische Bewegungen „an sich“ und deren Messergebnisse auf dem Seismographen nicht dasselbe; aber deswegen kann man nicht sagen, letztere enthielten keine objektiven Informationen über die wirklichen Erdbewegungen, sondern würden, obwohl von einem Erdbeben verursacht, allein etwas über die Natur des Seismographen aussagen. Genau dies jedoch behauptet Kant absurderweise von unserer Sinneserkenntnis.

Es ist schlicht ein Rätsel, wie aus der kantischen Kombination von sinnlicher Blindheit und begrifflicher Leere so etwas wie Erkenntnis entstehen könnte. Dass es ein Rätsel ist, gab Kant 1790 in der Erwiderung an seinen Kritiker Johann August Eberhard selber zu: Auf welche Weise so „völlig heterogene Erkenntnisquellen“ wie Sinnlichkeit und Verstand in Verbindung treten und objektive Naturerkenntnis möglich machen „dieses konnten wir nicht (und das kann auch niemand) weiter erklären“ (Über eine Entdeckung…, BA 124, Akad. Ausg. VIII, 250).

Kants zirkuläre Beweisführung

Die dadurch in seiner Kritik der reinen Vernunft entstehenden Argumentationsprobleme löst Kant durch eine zirkuläre Beweisführung, während der er als „Beweis“ ausgibt, was in Wirklichkeit lediglich Wiederholung der unbewiesenen Grundvoraussetzung seines Systems ist: Die Erkenntnis von Notwendigkeit und Allgemeinheit könne nicht aus der Sinneserfahrung stammen, folglich sei sie a priori in den Kategorien unseres Verstandes vorgegeben. Kants Hauptwerk ist deshalb die größte Tautologie der Philosophiegeschichte – bis Hegel auftritt, der dann den Begründungszirkel zur Methode vollkommener Wissenschaft erklären wird.

Kants Kritik der reinen Vernunft ist das erste jener aus der Geschichte des deutschen Idealismus bekannten und so bewunderungswürdigen philosophischen „Systeme“, die, wie Baron Münchhausen, sich selbst am eigenen Schopf ergreifend aus dem Sumpf zu ziehen versuchen, was natürlich nur auf dem Papier gelingen kann, und zwar bei Kant auf äußerst eindrucksvolle, ja faszinierende Weise.

Martin Rhonheimer war von 1990 bis 2020 Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien.

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