Was haben die Sängerin Billie Eilish, lateinamerikanische Feministen und die britische Komödiantin Phoebe Waller-Bridges gemeinsam? Sie alle erheben Anspruch auf einen Trend, der in den sozialen Medien, besonders „TikTok“ und „Instagram“, gerade ein Comeback erlebt: „Sadgirls“, also „traurige Mädchen“. „TikTok“-Stars tupfen sich künstliche Tränen auf die Wangen. Bella Hadid hält ihr verheultes Gesicht in die Selfiekamera. Phoebe Waller-Bridges lässt ihre Mascara in ihrer Rolle als „Fleabag“ in der gleichnamigen Netflix-Serie großzügig verlaufen. Warum sind eigentlich alle so traurig?
Dieser Online-Trend ist nichts Neues. Seinen ersten Höhepunkt hatte er 2014 auf der Microblogging-Webseite „Tumblr“, mit der Sängerin Lana Del Rey als seiner Schutzpatronin. Erfolgreiche Beiträge kombinierten deprimierende Sprüchlein wie: „Ich bin so verdammt traurig“ mit Motiven von Zigaretten, schwarzen Converse und melancholischen, mageren Frauen. Damals ging der Trend einher mit einer morbiden Faszination und Romantisierung von Selbstmord, Selbstverletzung und Essstörungen. Während manche Nutzer, von denen die Mehrheit Mädchen waren, hier eine Community fanden, in der sie sich zugehörig fühlten, sehen viele den Trend heute kritisch. Denn traurig zu sein, mit allem, was dazugehörte, bedeutete, interessant zu sein – und man verdiente sich Mitleid, was auf Tumblr wiederum Aufmerksamkeit und Bestätigung generierte.
Multimediale Selbstinszenierung
Heute ist „mental health“, psychische Gesundheit, ein Dauerbrenner auf den sozialen Medien. Psychische Erkrankungen zuzugeben, heißt, authentisch zu sein, „roh“ zu sein. Promis nutzen das, indem sie sich scheinbar verletzlich zeigen und der Öffentlichkeit ihre seelischen Wunden offenlegen – und daraus Kapital schlagen. Ein Beispiel dafür ist das Prinzenpaar Harry und Meghan, deren Forderung nach Privatsphäre beständiger Teil ihrer multimedialen Selbstinszenierung ist.
Billie Eilish, der Inbegriff des „sad girls“ gibt sich zahm; die Sängerin lebt vegan, nimmt ihre Mutter mit in ihre jährlichen „Vogue“-Videos und wehrt sich dagegen, zu viel Haut zu zeigen. Sie raucht nicht, kifft nicht, nimmt keine Drogen – auch wenn sie in ihren Liedern damit droht, Väter zu verführen. Insgesamt hat man den Eindruck, die prominenteste Version des „sad girl“ kommt aus einer vergleichsweise heilen Welt – und sie kann ihre Traurigkeit nach Belieben wieder ausschalten, wie eine Billie-Eilish-Playlist.
Flucht vor Schuldgefühlen
Traumata und kaputte Beziehungen romantisieren heute eher die jüngeren, intellektuell sozialisierten Millenials. Zu den Leitmedien jener Gruppe gehört die britische Serie „Fleabag“, kreiert von Phoebe Waller-Bridges. Der Zuschauer begegnet der namenlosen Protagonistin nach dem Selbstmord ihrer besten Freundin, mit deren Partner Waller-Bridges‘ Charakter eine Affäre hatte. Sie flieht mit schwarzem Humor und destruktivem Verhalten vor ihren Schuldgefühlen. Dem eifern junge Frauen, die sich in ihrer eigenen „Fleabag“-Phase sehen, laut Autorin Jessica Sun Li im Studentenmagazin „The Dartmouth“ nach. Sie pflegen eine „nihilistische Misandrie, während sie eine vage Ästhetik von verschmiertem Eyeliner und dreckigem Haar beibehalten“. Sie fetischisieren die versteckte Verletzlichkeit, die Hypersexualität und emotionale Distanz der Protagonistin zu den Menschen in ihrer Nähe. In diesem Milieu ist Therapie und Hilfesuche wenig populär.
Doch was steckt hinter all diesen Phänomenen? Sind sie einfach eine digitale Weiterführung der langen künstlerischen Tradition von der Faszination der traurigen Frau? Niobe und Persephone, Kriemhild und Julia Capulet, Catherine Earnshaw und Jane Eyre, bis hin zu Virginia Woolf und Amy Winehouse?
Alternative zum „weißen Feminismus“
Abseits von dem westlichen Kanon gibt es eine ganz andere Gruppe, die die Begründung der Internetbewegung „Sad Girl“ für sich verbucht. Sie hat ihre Wurzeln in Tijuana, im mexikanischen Bundesstaat Baja California. Dort gründeten acht Latinas im Jahr 2013 die feministische Bewegung „Sad girls y qué“ als Alternative zum „weißen Feminismus“. Auch damals ging es um Ästhetik: Die Feministinnen posteten typisch mädchenhafte Motive wie Hello Kitty und Sailor Moon. „Durch die Verbreitung von Internetkunst wollen sie gegen die Machismo-Kultur in Mexiko und in der ganzen Welt vorgehen“, verkündet das Internetmagazin „Vice“ im Januar 2015. Im Interview mit dem Magazin kritisierten fünf der Gründerinnen im selben Jahr die „macho-orientierte und katholische Kultur“ und stellen der Jungfrau von Guadalupe die Geschichte von Malinche, einer nativen Mexikanerin gegenüber. Malinche war Dolmetscherin und später Geliebte des Konquistadors Hernán Cortés. „Anders als die Heilige Jungfrau gilt Malinche als Sexobjekt oder Hure, die mit Cortés geschlafen und ihr eigenes Volk verraten hat“, so die Gründerinnen im Interview mit Vice. „In Wahrheit wurde sie als Handelsobjekt zwischen Männern verwendet, die sie an die Spanier auslieferten.“
Die Gruppe kritisierte schon damals die Verwendung von „Sad Girls“ in den sozialen Medien von Weißen. In ihren Augen sei der Trend eine Auflehnung gegen das Patriarchat – und damit auch gegen privilegierte weiße Frauen: „Ein vernünftiger Feminismus sorgt sich um alle, besonders unterdrückte Gruppen, die seit Jahrzehnten von der westlichen Kultur dämonisiert, entmenschlicht und exotisiert wurden“, so Anna Bon.
Politischer Protest durch weibliche Traurigkeit
Damit reagierte die Gruppe auf die (weiße) US-Amerikanerin und Künstlerin Audrey Wollen. Sie entwickelt und popularisiert – ebenfalls im Jahr 2015 - die „Sad Girl Theory“, in der sie Traurigkeit und Frausein untrennbar miteinander verknüpft. Laut Wollen ist weibliche Traurigkeit ein politischer Protest. Im Interview mit dem Internetportal Nylon wies Wollen darauf hin, dass die häufigste Todesursache weltweit für Frauen zwischen 15 und 19 Selbstmord sei. „Anstatt dem Mädchensein einen positiven Anstrich zu geben, anstatt uns gewaltsam Optimismus und Selbstliebe die Kehle runterzuschieben, ein Pflaster auf diese offene Wunde zu kleben, sollte Feminismus meiner Meinung nach anerkennen, dass es sehr schwer ist, ein Mädchen in dieser Welt zu sein, und dass unsere Traurigkeit in Wahrheit eine angemessene und sachkundige Reaktion ist.“
Ob sich viele „sad girls“ als politische Aktivistinnen verstehen, ist fraglich. Zwar steigen die Zahlen der depressiven und von Angststörungen geplagten Jugendlichen in den letzten Jahren immer weiter an. Die Psychiaterin Judith Joseph erklärt im amerikanischen Live-Streaming-Netzwerk „Cheddar News“, dass das daran liegen könnte, dass das Bewusstsein für psychische Erkrankungen wächst. „Wir wissen, dass die Gen Zs sehr viel online sind, sich sehr offen über psychische Gesundheit äußern“, so Joseph. Die Generation leide laut Joseph generell an einem stärkeren Druck bezüglich Sexualität und verweist auf eine erhöhte Zahl von sexueller Gewalt gegen Mädchen. „Mädchen stehen zum Beispiel unter Druck, früher Sex zu haben, als sie es wollen“, so Joseph. Auch die Erwartung, auf den sozialen Medien perfekt zu erscheinen, übe enormen Druck auf Mädchen aus. Auf Instagram fordert die Psychiaterin Unterstützung und Aufklärung durch Eltern, Lehrer und ihr soziales Umfeld.
Gegen den Perfektionsdruck?
Vielleicht ist das „sad girl“ à la Billie Eilish, die die Sexualisierung ihres Körpers in den Medien immer kritisiert hat, doch ein Protest. Vielleicht will sie sich dem Perfektionsdruck entziehen, ihre Gefühle selbstbestimmt ausdrücken und verarbeiten – ohne gleich mit der ganzen Gesellschaft zu brechen. Im Gegensatz zu den Ursprungs-Emos rebelliert sie nicht gegen die eigenen Eltern, sondern gegen die graue Masse des Publikums der sozialen Medien. Vielleicht ist es für diese Jugendlichen befreiend, ihre Traurigkeit an- und auszuziehen wie ein paar Jeans, die aus der Mode gekommen sind.
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