In der 36. Sitzung der Kinderkommission am 9. September 2020 kritisierte Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik im Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal, das Vorgehen Kindern und Familien gegenüber in der Coronakrise. Kinderrechte würden verletzt, das Kindeswohl missachtet und die Kinder nicht gefragt. Über 13 Millionen Kinder und deren Familien sind von den negativen Folgen der Einschränkungen betroffen. „Grundrechte sollten gerade in Krisen schützen, egal ob Erwachsene oder Kinder. Es herrscht aber ein eindeutiges Missverhältnis, wenn Baumärkte geöffnet und Kinder weggesperrt werden“. Erst nach ein paar Wochen Einschließung mehrerer Millionen Heranwachsender konnten sich die verschiedenen Kinderrechts- und Menschenrechts-Organisationen langsam mit dem Hinweis Gehör verschaffen, dass dies alles aus rechtlichen Gründen nicht sein darf. Das Kindeswohl ist, so Klundt, laut UN Kinderrechts-Konvention in der Bundesrepublik vorrangig zu berücksichtigen.
Finanzielle Unsicherheit führt teils zu Gewalt
„Besonders arme Kinder leiden an den Folgen der Einschränkungen, wenn sie in die Wohnung eingeschlossen und aus der Bildung ausgeschlossen sind“, betont der Sozialwissenschaftler. Sein Lagebild: Weder in Parks noch auf Spielplätze konnten Kinder ausweichen, denn dort gab es Spielverbot. Durch die Schulschließungen fiel für einige das kostenlose Mittagessen weg. Einen onlinefähigen Computer für Schulaufgaben gab und gibt es meist nicht. Die Eltern dieser Kinder sind durch den wirtschaftlichen Lockdown oft in großer Sorge. Sie wissen nicht, wie es finanziell weitergehen soll, haben Angst vor Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit.
Die so erzeugte Aussichtslosigkeit führt in diesen Familien zu Depressionen, Suchtverhalten und erhöht das innerfamiliäre und gesellschaftliche Gewaltpotenzial. Wenn dann noch außerschulische soziale Angebote wegfallen, zum Beispiel Sport- und Spielstätten oder Jugendhäuser schließen, haben ärmere Familien kaum noch Chancen, die staatlichen Einschränkungen zu kompensieren. Soziale Schwachstellen in Deutschland bezüglich Partizipation, Armut, Infrastruktur und Inklusion haben sich mit der Corona-Krise sichtbar verschärft und machen Kindern und Familien das Leben schwer. „Die Debatte wurde außerdem verengt geführt. Die offene Jugendarbeit, der Freizeitbereich und die Sozialarbeit wurden nicht berücksichtigt“, so der Sozialwissenschaftler. Dabei seien gerade die Freizeitangebote für arme, aber auch obdachlose Kinder und Flüchtlingskinder von besonderer Bedeutung.
Privilegierte Kinder können ihren Vorsprung ausbauen
Wohlhabendere Familien könnten hingegen ihren Kindern genügend Raum, Gärten, einen Computerarbeitsplatz anbieten und sie bei Schulaufgaben tatkräftig unterstützen. Fazit: „Privilegiertere Kinder können ihren Vorteil an Partizipations- und Bildungschancen also sogar weiter ausbauen.“ Das bedeutet, „die Bildungsungleichheit in der Gesellschaft nimmt zu“. Eineinhalb Milliarden Kinder weltweit – darunter auch deutsche Kinder – litten und leiden unter der Bildungsexklusion, die durch Schulschließungen ausgelöst wird. Global hatten 463 Millionen Kinder keinen Ersatzunterricht. „So entsteht Analphabetismus und man kann davon ausgehen, dass viele Kinder weltweit – vor allem Mädchen – den Weg zurück in die Schule nicht mehr finden werden“, erklärt der Kindheitsforscher mit Bezug auf UNICEF-Studien. Die Zahl der Kinder in Armut ist weltweit um 150 Millionen auf 1,2 Milliarden gestiegen.
Alle Probleme und Risiken der Corona-Krise wurden auf die privaten Haushalte und Familien abgewälzt, was zumeist nur hieß und heißt: auf die Frauen und Mütter, die die meisten Sorgetätigkeiten aufgedrängt bekamen und völlig überlastet sind. „Für Bund, Länder und Kommunen sollte das Kindeswohl bei allen Maßnahmen – auch außerhalb Corona – an erster Stelle stehen. Jedoch wurde es bei den aktuellen politischen Entscheidungen praktisch nirgendwo berücksichtigt, geschweige denn vorrangig. Damit wurden elementare Schutz-, Fürsorge- und Beteiligungsrechte von Kindern verletzt. Das Deutsche Institut für Menschenrechte konnte kein Beispiel in der Bundesrepublik nennen, wo Kinder und Jugendliche angehört wurden“, stellt Klundt fest.
Bedürfnisse der Kinder nicht gesehen
„Auch die Kinder- und Jugendverbände wurden übergangen. Kinder wurden objektiviert, als Superspreader weggesperrt und instrumentell behandelt. Ihre Bedürfnisse wurden nicht gesehen und berücksichtigt, ein rechtswidriger Zustand.“ Dies muss sich nach Klundt „dringend ändern“. Kinder dürften nicht die Leidtragenden der Coronakrise sein, ihre Bedürfnisse in Krisenzeiten nicht einfach ignoriert werden. Klundt zitiert Jutta Allmendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, die es als Aufgabe der Politik sieht, dass „die Gruppen, die besonders gelitten haben unter diesen restriktiven Maßnahmen, sich auch gehört und angesprochen fühlen“. Sonst drohe ein dramatischer Vertrauensverlust, warnte Allmendinger. Jede politische Entscheidung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie – Maskentragen und Abstandhalten in der Schule gehören dazu – müsse die Kinderrechte stärker berücksichtigen.
Die gesamte Sitzung der Kinderkommission ist online abrufbar unter: www.bundestag.de
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