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Gewalt in Kindergärten: „Nur eine Spitze des Eisbergs erfasst“

Bei einer Gefährdung des Kindeswohls muss der Staat in Elternrechte eingreifen, meint der Kinderschutz-Experte Jörg Maywald. Jede vierte Interaktion in Kindergärten sei nicht kindgerecht.
Kindergärten
Foto: Christian Charisius (dpa) | Die Arbeit in Kindertagesstätten hat sich verändert, meint Maywald: Es gehe nicht mehr um "eine reine Betreuung von Kindern über Tag, sondern es geht um Bildungsansprüche und darüber hinaus um Kooperation mit den ...

Herr Professor Maywald, laut einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter Aufsichtsbehörden ist die Zahl der Meldungen über Gewalt in Kindergärten sowie bei Verdacht auf Fehlverhalten von Beschäftigten im vergangenen Jahr in einigen Bundesländern gestiegen. Handelt es sich hier um Einzelfälle oder ist das die Spitze des Eisbergs?

Ob der Anstieg der Meldungen damit zusammenhängt, dass es den Kindern in den Kitas schlechter geht oder die Sensibilität für dieses Thema zugenommen hat, können wir nur schwer unterscheiden. Auch wissenschaftlich ist dies nicht herauszufinden. In jedem Fall muss man davon ausgehen, dass nur eine gewisse Spitze des Eisbergs erfasst werden kann und sich viele Vorfälle weit unterhalb der Meldeschwelle abspielen oder trotz Verpflichtung nicht gemeldet werden. Außerdem haben wir keine einheitliche Statistik, denn jedes Bundesland verwendet andere Kriterien. Wir müssten eine Verpflichtung haben, solche Meldungen nach einheitlichen Kriterien in eine Bundesstatistik einfließen zu lassen. Wie groß in etwa die gesamte Dimension des Problems sein dürfte, wissen wir aber aus wissenschaftlichen Studien, der INTAKT-Studie, die sich auch auf Grundschulen bezieht, und der BiKA-Studie mit dem Fokus auf Kindertagesstätten.

Was besagen diese Studien?

Beide Studien kommen zu dem Ergebnis, dass insgesamt etwa jede vierte pädagogische Interaktion nicht kindgerecht ist, das heißt guten Standards nicht entspricht, und jede zwanzigste Interaktion eine schwere Kinderrechtsverletzung darstellt. Das ist aber nicht immer bereits meldepflichtig. Die BiKA-Studie ist sehr interessant, weil hier nicht nur Fragebögen verteilt wurden oder beobachtet wurde, sondern in 89 Krippen bundesweit Filmaufnahmen von drei Standardsituationen, nämlich einer Mittagessensituation, einer freien Spiel- und einer Vorlesesituation, gemacht wurden. Besonders beunruhigend ist die Situation beim Mittagessen. Bei fast jeder vierten Mittagessensituation in der Krippe konnte das Kind nicht selbst entscheiden, ob es etwas essen möchte. Es war ein Druck zum Essen vorhanden. Und fast jedes zweite Kind konnte nicht bestimmen, wie viel es essen oder trinken möchte, ohne dass es sich um eine Mangelsituation gehandelt hätte. Hier geht es um sehr junge, verletzliche Kinder, und wir müssen das Thema wirklich ernst nehmen.

"Hier geht es um sehr junge, verletzliche Kinder,
und wir müssen das Thema wirklich ernst nehmen"

Ab wann besteht denn die Meldepflicht?

Das ist im SGB VIII, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, niedergelegt. Es ist wichtig zu wissen, dass die Eingriffsschwelle bei Fachkräften niedriger ist als bei Eltern. Bei einer Gefährdung des Kindeswohls muss der Staat notfalls auch in Elternrechte eingreifen. Bei Fachkräften haben wir höhere Ansprüche, weil es Profis sind. Hier greift die Meldepflicht schon bei Beeinträchtigung des Kindeswohls.

Welche Ursachen sehen Sie für die Zunahme der Meldungen?

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In den meisten Fällen gibt es nicht nur eine Ursache, sondern eine Kombination aus mehreren Faktoren. Fast immer geht es um persönliches Versagen einer bestimmten Fachkraft, denn in den meisten Fällen arbeiten sehr gute, mittelmäßige und qualitativ schlechte Fachkräfte Tür an Tür. Fehlverhalten geschieht häufig vor dem Hintergrund eigener belastender Erfahrungen. Das ist aber keine Zwangsläufigkeit, wir sind nicht Opfer unseres Schicksals, sondern können uns ändern. Zum zweiten will ich die Ausbildungsfrage nennen. Zumindest bei den etwas älteren Kolleginnen war Fehlverhalten von Fachkräften meistens kein Thema in der Ausbildung. Kinderschutz bezog sich fast ausschließlich auf die Familien. Das ändert sich aber gerade.

Inwiefern wirkt sich denn der Personalmangel in den Kitas aus?

Die zugleich umstrittenste und interessanteste Ursache ist die Frage der Struktur: zu wenig Personal, große Gruppen, schlechte Räumlichkeiten. Hier gibt es keine einfache Antwort. So hat die BiKA-Studie keinen Zusammenhang zwischen der sogenannten Strukturqualität und der Partizipations- und Schutzqualität gefunden. Es gab relativ schlecht ausgestattete Kitas mit hervorragender Arbeit und relativ gut ausgestattete mit sehr schlechter Arbeit. Die große NUBBEK-Studie über die Qualität von Kitas dagegen kam zu dem Ergebnis, dass etwa 30 Prozent der Prozessqualität tatsächlich von der Strukturqualität abhängt. Ich selbst sehe einen gewissen Zusammenhang. Wenn wir mehr Geld ins System geben würden, hätten wir ein gewisses Maß an besserer Qualität, aber das ist kein Automatismus.

"Wenn wir mehr Geld ins System geben würden,
hätten wir ein gewisses Maß an besserer Qualität,
aber das ist kein Automatismus"

Gibt es noch weitere Faktoren?

Einen großen Einfluss bei diesem stressigen Beruf hat die Team- und Leitungsqualität. Wie wohlwollend, unterstützend und solidarisch arbeitet ein Team miteinander, wie transparent ist die Leitung? Auch der Umgang mit Fehlern ist ein Teil von professioneller Qualität im Austausch untereinander. Fehlverhalten offensiv anzugehen, das erwarte ich von Profis. Ein weiterer Punkt: Seit zwei Jahren sind die Träger von Kindertageseinrichtungen zur Erstellung von Gewaltschutzkonzepten verpflichtet. Damit erhalten Sie schriftlich fixierte Fachstandards als Maßstab. Wir kennen das aus der Medizin, hier heißt es Leitlinienorientierung. Den letzten großen Faktor situativer Stress sehe ich eher als Anlass für Fehlverhalten, weniger als Ursache. Stress führt nicht automatisch zu Fehlverhalten, es gibt ja Möglichkeiten der Selbstfürsorge und des Stressmanagements.

Wo würden Sie noch ansetzen, um präventiv gegen die genannten Faktoren vorzugehen?

Jörg Maywald
Foto: Bettina Keller | Jörg Maywald, geboren 1955, studierte Soziologie, Psychologie und Pädagogik. Er ist Mitbegründer des Berliner Kinderschutz-Zentrums.

Bei der Einstellung rate ich jeder Einrichtung, neben der fachlichen Eignung gerade in Zeiten des Fachkräftemangels besonders Wert auf die persönliche Eignung zu legen. Mit kleinen Assessments und Probearbeiten kann man gut sehen, ob ein Bewerber geeignet ist und ins Team passt. In der Ausbildung sind wir in einem guten Prozess. Aber auch bei den Strukturen – Fachkraft-Kind-Schlüssel und Gruppengröße – müssen wir uns bewegen, und zumindest die Ausbildung der Leitungen auf Hochschulniveau heben.

Hat sich die Arbeit in den Kindertagesstätten aus Ihrer Sicht grundlegend verändert?

Ja, es ist nicht mehr eine reine Betreuung von Kindern über Tag, sondern es geht um Bildungsansprüche und darüber hinaus um Kooperation mit den Familien. Die Kinder sind nicht immer einfach, die Familien sind belastet durch Corona und nicht selten auch durch Flucht und Migration. Kinder sind selbstbewusster als früher, was ich positiv sehe. Und der Aufenthalt in der Kita ist länger: es gehört heute zur Normalbiografie, dass ein Kind häufig schon vor 8 Uhr in die Kita kommt und bis 16.30 Uhr bleibt. Kitas haben eine also sehr hohe Verantwortung und sind in manchen Fällen sogar familienersetzend. Leider haben Fachkräfte in Kitas im Unterschied zur Schule nur wenig sogenannte mittelbare pädagogische Arbeitszeit. Dass die Fachkräfte wie in der Schule Zeit für Vor- und Nachbereitung, Elternzusammenarbeit, Vernetzung im Sozialraum, Selbstreflexion und Weiterentwicklung benötigen, ist in den Arbeitsplatzbeschreibungen stark unterbelichtet.

Was raten Sie Eltern bei der Suche nach einer Einrichtung?

Zunächst könnten sie sich bei anderen Eltern umhören und die Elternvertretung ansprechen. Die meisten Kitas bieten an, nach Absprache zu hospitieren. Außerdem: immer auf das Bauchgefühl achten, denn ungute Gefühle haben üblicherweise Gründe, selbst wenn man sie nicht immer gleich benennen kann. Ich rate auch, unterschiedliche Kitas zu vergleichen und nachzufragen, ob es ein Schutzkonzept gibt.


Jörg Maywald, geboren 1955, studierte Soziologie, Psychologie und Pädagogik. Er ist Mitbegründer des Berliner Kinderschutz-Zentrums.

Lesen Sie weitere Hintergründe zur Situation in Kindergärten in der kommenden Ausgabe der "Tagespost".

Themen & Autoren
Cornelia Huber Deutsche Presseagentur Kindeswohl

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