Beruflich liest Andreas Gold, Seniorprofessor für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt, fast nur noch am Bildschirm. In der Freizeit bevorzugt er für Belletristik und andere Literatur das analoge Format, nämlich das klassische Buch. Aktuell hat Gold ein flüssig lesbares Handbuch mit dem Titel „Digital lesen. Was sonst?“ veröffentlicht, das auf empirischer Basis die Möglichkeiten und Risiken digitalen Lesens vom Baby- bis zum Erwachsenenalter darstellt und den Lesern zahlreiche Tipps an die Hand gibt.
Auch Golds Studenten fahren zweigleisig, wie eine aktuelle Umfrage in seinem Fachbereich ergab. „Die Studienliteratur wird zu achtzig Prozent digital gelesen. In der Freizeit sinkt der Anteil des Digitalen auf etwa vierzig Prozent“, erzählt Gold im Gespräch mit der „Tagespost“. „Die Bibliotheken bewegen die Studierenden in diese Richtung, denn Fachbücher und Lehrbücher sind inzwischen fast ausschließlich digital verfügbar.“ Und so ist die klassische Uni-Bibliothek heute nicht mehr der „Leseplatz für gedruckte Bücher“, sondern ein Arbeitsplatz, an dessen Tischen hauptsächlich auf digitalen Endgeräten gelesen wird.
Förderung der Leseflüssigkeit
Für Gold ist dieser Befund kein Grund, sich kulturpessimistisch nach früheren Zeiten zurückzusehnen. Digitales und analoges Lesen gehören zusammen und ergänzen sich, diese Botschaft ist dem Wissenschaftler wichtig. Dazu braucht es neben Aufgeschlossenheit und einem unvoreingenommenen Blick für neue Chancen auch solides Hintergrundwissen über Lesehaltungen, Lesemodalitäten und den Prozess des Lesenlernens an sich.
Das Lesen liegt dem Kognitionspsychologen, der über „Bedingungen von Studienabbruch und Studienerfolg“ promovierte und sich mit der Arbeit „Gedächtnisleistungen im höheren Erwachsenenalter“ habilitierte, schon lange am Herzen. Seit etwa zwanzig Jahren beschäftigt sich Gold intensiv mit der Lesekompetenz. Gemeinsam mit Kollegen und Doktoranden legte er verschiedene Programme zur Leseförderung von Schülern ab der fünften Klasse auf.
„Zuerst ging es um Lesestrategien, um Sachtexte besser zu verstehen. Später haben wir ein Programm zur Förderung der Leseflüssigkeit entwickelt“, blickt Gold zurück. Viele Schulen setzen die Programme ein, die wegen des großen Bedarfs regelmäßig überarbeitet werden. „Die Leseflüssigkeit ist die Brücke zum Textverstehen“, betont Gold gegenüber der „Tagespost“. „Wir wissen aus den großen Bildungsstudien, dass ein viel zu großer Anteil der Kinder nicht gut lesen kann. Erst im Frühjahr hat das die neue IGLU-Studie im Hinblick auf die Viertklässler wieder aufgezeigt. Das ist eine Katastrophe.“
Lesen ist Grundlagenarbeit
Auch vor dem Hintergrund der „Digitalisierungseuphorie“ der letzten Zeit sieht Gold sein Engagement für das Lesen als „Grundlagenarbeit“, geht es doch perspektivisch um die persönliche und berufliche Zukunft der jungen Generation. Vor vier Jahren gelangte schließlich das digitale Lesen in den Fokus des Wissenschaftlers, als sich im norwegischen Stavanger Leseforscher aus der ganzen Welt zu einer Fachkonferenz versammelten. „In der sogenannten Stavanger-Erklärung, einem Memorandum, gaben die Experten zu Protokoll, dass sie die Digitalisierung im Hinblick auf die Entwicklung der Lesekompetenz mit Sorge betrachten.“ Unter bestimmten Bedingungen könne das Lesen auf digitalen Endgeräten tatsächlich nachteilig sein, erläutert Gold. „Die Leseforschung sagt uns, dass es beim Lesen längerer Sachtexte zu einer Bildschirmunterlegenheit kommt. Diese Texte werden am Bildschirm weniger gut verstanden und schlechter behalten als auf Papier.“
Als Grund dafür benennt der Leseforscher, dass der Mensch an das Bildschirmlesen mit einer anderen Einstellung herangehe. „Wir lesen am Bildschirm oberflächlicher, flüchtiger, unaufmerksamer und lassen uns leichter ablenken. Außerdem wird der Lesefluss häufiger unterbrochen. Für das Verstehen von Sachtexten ist das nicht günstig.“ Der Bildschirm triggere diese Art zu lesen, weil man ihn häufig mit etwas Vergnüglichem, wenig Anstrengendem verbinde. Wenn man sich dieser Gefahren bewusst sei, könne man aber beim Lesen längerer Sachtexte aktiv gegenarbeiten, etwa durch bewusstes Verlangsamen des Lesens oder das Ausschalten der Benachrichtigungsfunktion am digitalen Endgerät. Im schulischen Kontext rät Gold den Pädagogen, in digitale Texte Zwischenfragen einzubauen. „Der digitale Text läuft dann erst weiter, wenn die eingestreute Frage beantwortet ist. So wird sichergestellt, dass die Kinder aufmerksam lesen.“
Hier zeige sich auch einer der Vorteile des digitalen Formats, nämlich die Gestaltungsmöglichkeiten für den zielgerichteten pädagogischen Einsatz. Als weitere Beispiele nennt Gold das einfache Anpassen von Schriftgröße, Zeilenabstand und Sprachniveau an besondere Bedürfnisse von Schülern sowie den Einbau von Audio-Verknüpfungen oder sogenannten Hotspots, mit denen die Bedeutung von schwierigen Wörtern erklärt wird.
Lesen heißt nicht Verstehen
Die Bildschirmunterlegenheit beim Lesen längerer Sachtexte geht laut Gold ferner auf die Fehleinschätzung zurück, man habe etwas bereits verstanden, allein weil man es gelesen habe. Auch hier macht der Leseforscher ein „dysfunktionales Mindset“ aus: das Lesen auf dem elektronischen Medium werde nicht so ernst genommen. „Außerdem sind wir am Bildschirm viel schneller fertig. Deswegen habe ich meinem Buch über das digitale Lesen folgenden Lesehinweis vorangestellt: ,Sie können dieses Buch auf Papier oder als E-Book lesen. Mit dem E-Book sind Sie schneller fertig, dafür werden Sie vermutlich weniger davon behalten.‘“ Bei der Belletristik konstatieren die Experten dagegen keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Leseformaten. Ob digital oder analog ist hier eher eine Sache des persönlichen Geschmacks. Insgesamt bietet das digitale Lesen klare Vorteile, wenn es um das „rasche Suchen und Finden von Informationen“ geht.
„Oft lesen wir, um danach zu schreiben“, charakterisiert Gold den Arbeitsalltag vieler Berufstätiger. Zudem kann man auf digitale Texte und direkt angebrachte digitale Notizen an jedem beliebigen Ort zugreifen. Vor allem im wissenschaftlichen Kontext arbeiten oftmals mehrere Personen gleichzeitig an einer Datei. Durch Verknüpfungen zu anderen Dokumenten bieten sich zudem für das Lernen „ganz neue Möglichkeiten“, so Gold. Das Erlernen digitaler Lesekompetenzen verortet Gold eindeutig in der Schule, die hier in der Verantwortung sei. Zunächst gehe es darum, Lesen zu lernen. Danach, wenn gelesen werde, um zu lernen, sollten Kinder behutsam an elektronische Medien herangeführt werden.
Denn die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) sehen vor, dass bereits Grundschüler am Ende der vierten Klasse das Navigieren und die Recherche im Internet sowie den Umgang mit Hypertexten und Quellen kennen. In den höheren Klassenstufen müsse das digitale Lesen weiter ausgebaut und insbesondere das Lesen multipler Texte zu einem Thema sowie die Quellen-Prüfung vertieft werden, betont Gold. Damit das gelinge, bräuchten Schulen nicht nur einen Klassensatz digitaler Endgeräte. Vielmehr müsse sich die Lehreraus- und -fortbildung des Themas annehmen.
Weichen für den späteren Leseerfolg
Vor Schuleintritt stellen dagegen die Eltern die entscheidenden Weichen für den späteren Leseerfolg, hebt Gold hervor. Bei jüngeren Kindern legt der Experte einen Verzicht auf elektronische Medien nahe. Stattdessen sollten Eltern und Großeltern so früh und so lange wie möglich vorlesen – ab dem Alter von etwa sechs Monaten bis weit ins Grundschulalter hinein. „Leider lesen vierzig Prozent der Eltern ihren Kindern nicht vor. Dabei ist das Vorlesen entscheidend für die Sprachentwicklung und trägt außerdem dazu bei, die Eltern-Kind-Bindung zu stärken. Denn bei der Vorlesesituation kann sich das Kind darauf verlassen, dass das Elternteil zuverlässig zur Verfügung steht.“ Von den allseits beworbenen elektronischen Bilderbüchern für die Kleinsten rät Gold zwar als Entwicklungspsychologe ab. „Aber als Leseforscher meine ich: das ist besser als wenn gar nicht vorgelesen wird. Kinder mit ungünstigen Lernvoraussetzungen könnten durchaus von klug angereicherten digitalen Lesemedien profitieren.“ Kinder, Jugendliche und Erwachsene ermutigt Gold: „Man muss beide Lesemedien und unterschiedliche Lesemodalitäten beherrschen, dann ist man auf der sicheren Seite.“
Andreas Gold: Digital lesen. Was sonst? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, 181 Seiten, ISBN 978-3-525-70334-2, EUR 23,00
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