Feuilleton

Weihnachten wie damals

Ein Charles Dickens-Festival im niederländischen Deventer lässt die Welt der viktorianischen Festtage wieder aufleben. Von Gerd Felder
Die Dame in Weiß mit ihrem Weihnachtsbaum.
Foto: Gerd Felder | Die Dame in Weiß mit ihrem Weihnachtsbaum.

Ein niederländisches Städtchen und der englische Schriftsteller Charles Dickens – und das alles kurz vor Weihnachten? Tatsächlich ist die Hansestadt Deventer, nicht weit von der deutschen Grenze gelegen, seit über 25 Jahren Heimat eines ungewöhnlichen (Vor-)Weihnachts-Festivals. Ein Wochenende lang taucht das historische Bergkwartier unter der Überschrift „Deventer Weihnachtsstadt“ völlig ein in die Welt des viktorianischen Englands und verbreitet die Gnade der Weihnachtszeit. Oliver Twist und 200 andere Figuren von Dickens ziehen in original historischen Kostümen durch die Straßen. Im Mittelpunkt aber steht vor allem einer: der griesgrämige Weihnachtshasser und Menschenfeind Ebenezer Scrooge aus Dickens' berühmtem „Christmas Carol“ („Weihnachtslied“).

Kurz vor zehn Uhr haben sich an den Eingängen zum Bergkwartier bereits lange Schlangen gebildet. Keine Frage: Das Dickens-Festival von Deventer ist ein Magnet, und auch aus Deutschland sind viele Touristen aus grenznahen Orten mit Bussen oder Privat-Pkws angereist, um sich dieses ungewöhnliche Ereignis nicht entgehen zu lassen. Trotz der Wartezeit ist die Stimmung niederländisch-locker. Scherze werden gemacht, und auch die ersten Darsteller des Festivals und Musikkapellen tauchen auf und vertreiben den Wartenden die Zeit. Bis zu zwei Stunden, so heißt es, warten die Interessierten hier oft auf Anlass, aber zu dieser frühen Einlasszeit geht es schneller. Schon bald tauchen wir ein in die Welt der Kopfsteinpflaster-Gassen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, deren ehrwürdige Backsteinhäuser stimmungsvoll mit Girlanden, Weihnachtsbäumen und kleinen Lichtern geschmückt sind. Rasch ist der erste Laden erreicht, der uns mit seiner original historischen Einrichtung, seinen nützlichen Dingen für den Haushalt und seinen Süßigkeiten verzaubert.

Zwei Damen bedienen hier mit viel Charme – natürlich mit den weißen Häubchen und weißen Schützen der Dickens-Zeit ausstaffiert, versteht sich. Alle Geschäfte des Bergkwartiers sind an diesem Wochenende geöffnet, und alle Ladenbesitzer und ihre Mitarbeiter dürfen nur dann mitmachen, wenn sie der Dickens-Zeit entsprechend gekleidet sind. Wobei das historische Viertel von Deventer tatsächlich viele originelle, bezaubernde Einzelhandelsgeschäfte zu bieten hat, die unter anderem Tee, Käse, Waffeln, außergewöhnliche Schokolade, alte Möbel, Bücher, Bürsten und Hüte anbieten. In einem Schaufenster sitzt eine vornehm ganz in weiß gekleidete alte Dame neben einem Weihnachtsbaum und lächelt den Passanten geheimnisvoll zu. „Let op, kijk uit!“, ertönen Rufe durch die Straßen. Eine Gruppe von stilvoll in Frack und Zylinder gekleideten jüngeren Herren mit Hochrädern bahnt sich einen Weg durch die Menge und erregt viel Aufsehen; an diesem Tag werden wir sie noch mehrfach erleben. Über der Straße ist die Wäsche malerisch aufgehängt. An einer Ladenecke stimmt eine – natürlich ebenfalls stilecht viktorianisch gekleidete Gruppe – Weihnachtslieder an, ein paar hundert Meter entfernt spielen Blechbläser. Wieder ein Stück weiter sind ein paar junge Frauen intensiv mit Waschbrett und Bürste beschäftigt und reinigen ihre Wäsche in großen Bottichen. Auf einer Bank am Rande des Weges hat ein vornehmes Ehepaar Platz genommen, er in feinen Tweed gekleidet, mit hohem grauen Zylinder und weißen Gamaschen, sie ganz in Rot und Schwarz, mit einem imponierend breitkrempigen Hut, weit ausladendem Kleid und kleinem Handtäschchen. Schräg gegenüber der Kontrast dazu: Drei notdürftig in graue Decken gehüllte Waisen-Mädchen mit Schlägermützen, die um eine milde Gabe bitten. Sehr anschaulich verstehen es die Einwohner von Deventer, die Klassengegensätze und großen sozialen Unterschiede der Dickens-Epoche ins Bild zu setzen, die von Armut, Not und Kinderarbeit geprägt war.

Die Geschäftsfrau Emmy Strik, die viele Jahre einen kleinen Geschenkartikel-Laden in Deventers Bergkwartier führte, „erfand“ im Jahr 1991 das „Dickens Festijn“, als die Stadt einen verkaufsoffenen Sonntag im Advent abhalten wollte, sie aber nicht einfach noch einen siebten Tag hinter der Ladentheke verbringen wollte. Wenn schon, dann musste etwas Besonderes kreiert werden, und da Emmy Strik die englische Kultur und vor allem die Romane von Charles Dickens besonders liebt, kam ihr die Idee, ein Dickens-Festival zu veranstalten, anfangs mit gerade mal 70 Mitwirkenden, heute dagegen mit 1 000 Akteuren und freiwilligen Mitspielern. Wobei man sich vor Ort davon überzeugen kann, dass die Einwohner die einzelnen Figuren nicht nur spielen, sondern ein Wochenende lang mit Leib und Seele verkörpern.

Inzwischen treibt ein Hirte, assistiert von vielen Kindern, seine Schafe durch die alten Gassen, gestandene, kräftige Männer rollen in hohem Tempo Fässer über das holprige Pflaster. Unser Weg führt hinauf zum höchsten Punkt des historischen Viertels bei der Bergkirche, wo ein Dienstmädchen-Chor Lieder aus dem Musical „Oliver Twist“ vorträgt. Überall, aus allen Richtungen und an sämtlichen Ecken, ertönt jetzt der Ruf „Merry Christmas“, auch als Ebenezer Scrooge mit wehendem schwarzen Mantel und hohem schwarzen Zylinder, missmutig und unfreundlich wie immer, durch die Straßen eilt. Viel lockerer und fröhlicher geben sich dagegen die Pickwickier und David Copperfield. Im Inneren der profanierten Bergkirche (eigentlich Nikolauskirche), die heutzutage als Ausstellungsraum dient, stoßen wir noch einmal auf Ebenezer Scrooge, diesmal als Wachspuppe. Er hat sich tief unter die Bettdecke verkrochen und schaut nur mit einem Auge hervor – direkt auf den Geist der vergangenen Weihnacht, der ihm erscheint. Nebenan findet sich die Szene, in der der Geist der zukünftigen Weihnacht ihm seinen eigenen Grabstein vor Augen führt, während ein paar Meter davon entfernt ein festlich gekleideter Chor Oliver Twist, der an einer festlich gedeckten, langen Tafel sitzt, ein Ständchen gibt. In der anderen Hälfte der Kirche ist eine riesige naturgetreue Krippenlandschaft mit vielen Details und liebevoll geschnitzten und drapierten Figuren aufgebaut.

Plötzlich, gegen Ende des Festival-Tages, ziehen eine Dudelsackgruppe und Wachsoldaten auf. Eine Schar von Dienstmädchen, die mit ihren Besen die Straße fegen, folgt ihnen, angeführt von einem Konstabler. Immer mehr Akteure strömen zusammen und bilden einen langen, nicht enden wollenden Zug, der an den begeistert klatschenden Zuschauern mit ihren unablässig hochgehaltenen Handys und Digitalkameras vorbeizieht. Ein letztes Mal wird Queen Victoria, die auf einem Dickens-Festival natürlich nicht fehlen darf, mit einer Sänfte durch die Straßen getragen. In regelmäßigen Abständen hat sie sich, begleitet von ihren blau gekleideten Wachmannschaften, zuvor „ihrem“ Volk gezeigt und ihm huldvoll zugewinkt. Die Besucher streben den Ausgängen und dem Weihnachtsmarkt zu, der sich jenseits des Bergkwartiers mitten durch Deventers Innenstadt zieht, oder in die Weihnachtskonzerte, die in den Kirchen angeboten werden. Auf einmal sind wir in einer anderen Welt: Auf den Außenterrassen der Straßencafés sitzen Touristen und Einheimische mit löcherigen Jeans und Winterjacken, dem Schlabberlook des 21. Jahrhunderts. Das Flair des viktorianischen Englands scheint auf einmal wie weggeblasen, erst recht, als die Barrieren zum Bergkwartier abgebaut werden und sich wieder das normale, alltägliche Straßenbild bietet. Oder schaut da doch noch Nicolas Nickleby um die Ecke?

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