Die Fachstelle für Pflegende Angehörige ist nahe am Berliner U-Bahnhof Südstern und befindet sich auf dem Gelände eines evangelischen Friedhofs. Das rührt sicher daher, weil ihr Träger das Diakonische Werk Berlin Stadtmitte ist. „Die Fachstelle für Pflegende Angehörige ist zugleich eine Stabsstelle der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung und wird durch den Senat finanziert“, sagt Frank Schumann, ein großer, aufgeschlossener Mann mit Brille, wachen Augen, markantem Kopf und wenigen Haaren. Frank Schumann war bis April dieses Jahres „Projektleiter“ dieser Fachstelle, die es seit dem Jahr 2010 gibt.
Die Aufgaben der Fachstelle umreißt Schumann wie folgt: „Konzeptentwicklung, Beratung und Maßnahmenempfehlung zur besseren Unterstützung der pflegenden Angehörigen in der Stadt“. Es ist keine direkte Beratung, die Zielgruppe sind nicht die pflegenden Angehörigen, sondern Entscheider aus der Politik und dem Gesundheitswesen. Frank Schumann ist gelernter Krankenpfleger. „Eine klassische Pflegefachkraft, heutzutage heißt das ja Gesundheits- und Krankenpfleger und zukünftig soll es nur noch Pflegefachfrau oder Pflegefachmann heißen.“ Zwanzig Jahre arbeitete er in der ambulanten Pflege unter anderem in der Diakoniestation in Berlin-Schöneberg.
Pflege in der Familie als anerkannte Leistung
Eine der großen Herausforderungen ist „die Frage der Selbstwahrnehmung pflegender Angehöriger, das entscheidet oft darüber, ob sie Unterstützung annehmen wollen oder nicht. Denn Selbstwahrnehmung hat sehr viel auch mit der Fremdwahrnehmung zu tun, also wie unsere Gesellschaft pflegende Angehörige wahrnimmt“, erläutert Schumann. Um das zu verdeutlichen, spricht Frank Schumann die Kategorien von Lob, Anerkennung und Honorierung an, die oft bei dieser Arbeit in der Familie fehlen. „Da gibt es viele Defizite. Ich glaube, es ist ein Paradigmenwechsel notwendig, von dieser Selbstverständlichkeit; zu pflegen, hin zu einer gesellschaftlich anerkannten Leistung.“ Frank Schumann ist fest davon überzeugt, dass dieser Wechsel bei der Wertschätzung dazu führen wird, pflegende Angehörige zukünftig leichter zu Hause zu unterstützen und sie mit den bestehenden Angeboten auch zu erreichen. Für ihn ist das, „was diese Millionen Menschen in Deutschland tun, ein Dienst an der Gesamtgesellschaft. Pflege ist keine Randnotiz des Lebens“. Nach dem Pflegebedürftigkeitsbegriff seit 2017 gibt es mittlerweile dreieinhalb Millionen Pflegebedürftige in Deutschland und mehr als die Hälfte von ihnen wird ausschließlich durch pflegende Angehörige zu Hause versorgt. Ausschließlich bedeutet: Es ist keine ambulante beruflich-tätige Pflegeeinrichtung dort mit zugegen“. Bei den anderen 50 Prozent helfen Pflegedienste, auch wenn sich die unmittelbare Verwandtschaft oder Freunde und Nachbarn ebenso engagieren. Ohne die Familie oder Wahlverwandtschaften würde das häusliche Pflegesystem nicht funktionieren. „Weil von diesen 3,5 Millionen Menschen also ungefähr 2, 7 bis 2, 8 Millionen zu Hause versorgt werden – also mindestens immer ein pflegender Angehöriger mit im Boot ist, gehen wir von bis zu fünf Millionen pflegenden Angehörigen bundesweit aus“, erklärt Frank Schumann.
Auch junge Menschen pflegen mit
Im Bevölkerungsdurchschnitt sind durch alle Altersstufen rund sieben Prozent der bundesdeutschen Menschen von Pflege zu Hause betroffen. Dabei beginnt das Pflegeengagement oft auch schon bei jungen Menschen. 2017 machte die Fachstelle für pflegende Angehörige an Berliner Schulen dazu eine Umfrage und es stellte sich heraus, dass auch dort etwa 6, 8 Prozent der 12-17-jährigen Schüler bestätigten, in ein häusliches Pflegesystem eingebunden zu sein.
Oft pflegen nicht nur Mütter und Väter, Kinder und Enkel, sondern auch Omas und Opas und hier und dort auch Urgroßeltern. Sie wechseln sich mit professionellen Pflegediensten ab, stehen am Wochenende oder in den Ferien zur Verfügung, wenn der pflegende Angehörige auch einmal eine Auszeit und Erholung benötigt.
Die Belastung ist enorm und bringt die Familien an den Rand ihrer Leistungsgrenzen. „Irgendwann fängt Pflege mal an. Da ist es dann oft so, dass einzelne Personen unterstützen, die dann beim Vollbad helfen oder in der Woche zwei Mal einkaufen gehen.“ Aber wenn die Pflege umfangreicher wird „sind oft ganze Familien beteiligt und es kann zu erheblichen Erschütterungen ganzer Familiensysteme kommen“, wie Frank Schumann diese massiven Veränderungen in der Familie umschreibt. Emotionen kochen hoch. Und es fehlt oft an Zeit für die anderen Beziehungen zu Kindern, den Ehepartnern oder auch Freunden. Das sei auch mit Leid verbunden, wenn zum Beispiel Uneinigkeit darüber entsteht, wie die Pflege zu gestalten ist. Es müssen konkrete Fragen beantwortet werden, zum Beispiel: Wer übernimmt welche Verantwortungen? Ist eine externe Hilfe notwendig? „Hier kann es bis zur Zerrüttung von Familien kommen“, erläutert er seine Erfahrungen. Außerdem seien pflegende Angehörige in höherem Maß krankheits- und armutsgefährdet. Deshalb sei die gesamte Gesellschaft in der Pflicht. „Wir alle müssen uns Gedanken darüber machen, den Finger heben und bei der Unterstützung helfen, bevor diese Katastrophen in den Familien passieren.“
Überlastungssituationen bei den Angehörigen und Freunden
Art und Umfang der häuslichen Pflege können Freunde und Angehörige oft nicht einschätzen. Pflegeaufgaben entstehen „oft aus einem Impuls heraus, helfen zu wollen. Das muss gar nicht unbedingt immer die große Liebe zwischen pflegebedürftigen Eltern und ihren Kindern sein. Oder zwischen pflegenden Eltern und ihren pflegebedürftigen Kindern. Manchmal ist es auch schlicht ein Verantwortungsgefühl, weil man denkt, okay hier ist jemand, der hat mir Gutes getan, als ich selber mal jung war und das will ich jetzt zurückgeben, oder das Gefühl, es gehört sich, dass man als nahestehender Angehöriger hilft“.
Dann schildert er schleichende Prozesse, wenn Angehörige für einen scheinbar überschaubaren Zeitraum Hilfe anbieten. „Aber es gibt Komplikationen und dann findet man sich in einer Pflegesituation wieder. Ganz häufig auch bei geistigen Veränderungen – egal ob bei Demenz oder durch einen Schlaganfall.“ Was mit kleinsten Hilfestellungen begann, wird zeitlich immer intensiver. „Es ist wie eine Spirale, denn die durchschnittliche Pflegedauer in der häuslichen Pflege in Deutschland liegt zwischen acht und zehn Jahren.“
Diese Überlastungssituationen bei den Angehörigen und Freunden gehen mit vielen Kommunikationsproblemen einher. „Vor allen Dingen immer dann, wenn ich über meine Problematik in der Öffentlichkeit nicht so richtig reden kann. Pflege ist eben kein Stammtischthema und auch nicht unbedingt ein Thema, das ich mit meinem Nachbarn am Gartenzaun bespreche. Es ist tendenziell tabuisiert und oft etwas, was hinter geschlossenen Türen besprochen wird – wenn man Glück hat im Kreis der Familie, wenn man Pech hat, sind auch in Familien viele mit ihren Gedanken alleine.“
Ein Thema, das jeden Menschen betrifft
Schumann möchte klarmachen, „das könnte mein Nachbar sein“. Oder warum sich nicht auch vorstellen, „das könnte mich auch treffen. Da müssen wir uns nichts vormachen. Wir alle haben beste Chancen, früher oder später einmal in diese Situation zu kommen, uns entscheiden zu müssen, wollen wir einen Angehörigen pflegen oder selber die Entscheidung treffen zu müssen, wollen wir von einem Angehörigen gepflegt werden oder lieber von einer Sozialstation oder in einer stationären Pflegeeinrichtung. Es ist ein Thema, das jeden Menschen betrifft“.
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