Nach einem langen Arbeitstag geht die junge Frau trotz der Müdigkeit mit schnellen Schritten durch die engen Flure ihres fünfstöckigen Wohnblocks. „Ich mache jede Arbeit, die ich finden kann“, versichert sie. „Als Altenpflegerin, Kellnerin, Babysitterin. So kannst du hier in Sevilla etwa tausend Euro im Monat verdienen. Aber dafür muss ich manchmal von sieben Uhr morgens bis zwei Uhr nachts arbeiten.“
Die alleinerziehende Mutter geht an vielen Wohnungstüren vorbei, die jeweils nur wenige Meter voneinander entfernt sind. In dem Gebäude wohnen mindestens fünfhundert Menschen, schätzt sie. Die Bevölkerung des Stadtteils Amate muss mit vielen sozialen Problemen klarkommen. Zum Beispiel steigt die Zahl der Raubdelikte seit Jahren. Gerda fühlt sich erst sicher, wenn die Tür ihrer Wohnung hinter ihr zugefallen ist. Sie lebt zusammen mit ihrem neunjährigen Sohn. Viele ihrer Nachbarinnen sind auf Lebensmittelhilfen karitativer Organisationen angewiesen. „Der fehlende Wohnraum ist ein großes Problem in Sevilla“, sagt Gerda. „Die Preise sind völlig überteuert, egal ob beim Kauf oder für die Miete. Die Summe, die ich für ein paar Quadratmeter zahle, ist eine Unverschämtheit. Wir wohnen in einem Mauseloch.“ Eine größere Wohnung kann sich Gerda nicht leisten. Tatsächlich verdient sie in manchen Monaten nicht genug, um die 480 Euro für ihr Zimmer mit Küche und Bad zu zahlen. „Mein Stundenlohn liegt bei sechs oder sieben Euro. Manchmal sind es nur fünf. Niemand fragt, ob das legal ist. Auch ich nicht. Mir geht es vor allem darum, genug Geld aufzutreiben, um meinen Sohn zu ernähren.“ Meist arbeitet Gerda schwarz, ohne soziale Absicherung, so wie die meisten ihrer Bekannten. „In Sevilla ist es schwierig, Arbeit zu finden. Es gibt hier Leute mit zwei Universitätsabschlüssen, die froh wären, wenn sie eine Anstellung bei der städtischen Müllabfuhr bekommen könnten.“
Es war wie in einem Horrorfilm
Das Nationale Institut für Statistik stellt jedes Jahr verschiedene Rangfolgen aller Stadtteile Spaniens auf. Eine dieser Listen bezieht sich auf das durchschnittliche Haushaltseinkommen. Amate steht mit monatlich knapp über tausend Euro auf dem drittletzten Platz. Auch die beiden ärmsten Stadtviertel Spaniens gehören zu Sevilla. Als Gerda vor zwei Jahren das letzte Mal umgezogen ist, war ihre neue Wohnung das billigste Angebot auf dem Markt. Trotzdem konnte sie die Miete irgendwann nicht mehr zahlen. Jetzt steht sie kurz vor der Zwangsräumung. „Ich bin krank geworden. Der Arzt hat mich in eine Klinik eingewiesen. Mein Körper war praktisch gelähmt. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Zu der Zeit hatte ich noch ein paar Ersparnisse, so dass ich die Miete weiter bezahlen konnte. Als alles aufgebraucht war, wollte ich mit dem Immobilienunternehmen über meine Situation sprechen. Die Firma besitzt viele Gebäude, aber mir wurde nur gesagt: ,Du und dein Sohn müssen morgen aus der Wohnung raus sein.‘ Damit hatte ich nicht gerechnet.“
Wenig später bekam Gerda Anrufe von angeblichen Anwälten der Hausverwaltung. Sie drohten, das Wasser und den Strom abzustellen. „Es war wie in einem Horrorfilm. Diese Leute fühlen sich mächtig. Sie wollten mich innerhalb von 24 Stunden auf der Straße sehen.“ Solche Drohgebärden sind rechtswidrig. In Spanien gibt es seit der Pandemie ein Moratorium für Zwangsräumungen, das noch immer gilt. „Das Gesetz hat mich beschützt. Vorerst kann ich in der Wohnung bleiben.“ Doch in letzter Zeit lassen sich immer mehr Richter von den Argumenten der Immobilienfirmen überzeugen und erlauben doch wieder Zwangsräumungen. Gerda wollte sich nicht einschüchtern lassen und hat Hilfe gesucht. Erst beim städtischen Sozialdienst. Kein Ergebnis. Dann im Rathaus. Fehlanzeige. „Dreieinhalb Monate lang habe ich mich erfolglos um einen Termin bei den Sozialdiensten bemüht. Ich stand wirklich kurz davor, mit meinem Sohn unter einer Brücke zu landen. Niemand half uns. Ich habe keinen Vater, keine Mutter. Trotzdem hat mir keine Behörde eine Tür geöffnet.“
Vor der Obdachlosigkeit gerettet
Schließlich gab ihr eine Freundin den Rat, sich an die APDHA zu wenden, die Menschenrechtsvereinigung Andalusiens. Heute sagt Gerda, dieser Tipp habe sie vor der Obdachlosigkeit gerettet – vorerst. In den Büroräumen der Organisation lernte sie Toni Martinez kennen, den Koordinator des PIVE, des Informationspunktes über Wohnraum und gemeinsames Handeln. „Die Armut und das Fehlen eines sicheren Wohnraums sind meist nicht Ergebnisse falscher Entscheidungen der Betroffenen“, sagt der grauhaarige Mann mit wachen Augen. „Schuld ist das System. Es ist ungerecht. Ein Recht auf Wohnraum haben nur diejenigen Leute, die dafür bezahlen können. Mittellose Menschen haben dieses Recht nicht. Das ist eine Tragödie, eine Grausamkeit.“ Der gelernte Buchdrucker Toni Martinez ist seit seiner Jugend gewerkschaftlich organisiert. Nach seiner Pensionierung beschloss er, sich weiter zu engagieren. Seine neue Mission: die Verteidigung des Menschenrechts auf angemessenen Wohnraum. „Keine Person sollte leiden, weil sie keine Wohnung hat.“ Heute ist Toni Martinez für Gerda ein wenig wie ein Ersatzvater. Sie vertraut darauf, dass er ihr in schwierigen Situationen zur Seite stehen wird. „Er öffnet uns die Türen des PIVE und ist ein unbezwingbarer Kämpfer für die Menschenrechte. Hier in Sevilla ist er die sichtbarste Person, wenn es um das Thema Wohnungsnot geht. Er ist ein guter Christ, der in seinem Engagement nie seinen eigenen Vorteil sucht. Viele Priester und religiöse Leute könnten von ihm lernen.“ Der ehemalige Gewerkschaftsfunktionär ist das wohl bekannteste Mitglied der Arbeiterbruderschaft der katholischen Aktion in Sevilla. Seit ihrer Gründung im Jahr 1946 bemüht sich die Bewegung christlicher Arbeiter um die Unterstützung bedürftiger Familien. „In der Nachfolge Christi wollen wir den Menschen die Werkzeuge geben, die sie brauchen, um ein Leben in Würde zu führen“, erklärt Toni Martinez. „Wir unterstützen Arbeitslose, Arbeiter und Familien, die unter Ungerechtigkeit und Ausbeutung leiden.“
Die katholische Arbeiterbruderschaft ist eine Art christlicher Gewerkschaftsorganisation mit langer Tradition. Sie wurde von liberalen katholischen Laien in Opposition zum faschistischen Franco-Regime gegründet. „Als Christ kann ich nicht morgens aufstehen und untätig bleiben. Ich bin sensibel für das Leid meiner Mitmenschen. Im PIVE unterstützen wir Personen, die unter der Bedrohung leben, durch eine Zwangsräumung ihre Wohnung zu verlieren. Wir beraten, helfen und ermutigen.“
Behörden versagen
Zweimal im Monat findet ein Informationstreffen für Betroffene statt. Erfahrene Aktivisten bieten ihren Rat an: ein Sozialarbeiter, ein Anwalt und Toni Martinez. „Als erstes nehmen wir diese Menschen auf und lassen sie wissen, dass sie nicht mehr allein sind, dass sie jetzt Teil einer Gruppe sind, dass ihr einsames Leiden vorbei ist.“ An diesem Abend begrüßt Toni zwölf Hilfesuchende: junge und ältere Ehepaare, deren Vermieter mit Rausschmiss drohen; Frauen mit und ohne Kopftuch; ein Vater von drei Kindern, die alle provisorisch bei einer Cousine untergekommen sind; eine achtzehnjährige Migrantin aus Kolumbien, die zusammen mit einigen lateinamerikanischen Freunden eine leer stehende Wohnung besetzt hat; eine Frau mit offensichtlichen psychischen Einschränkungen, die Details ihres Mietvertrags nicht versteht. Gerda ist auch da. „Der Informationspunkt war für mich wie ein Wunder“, sagt sie. „Nicht nur, weil mir hier mit vielen Dokumenten geholfen wurde, sondern vor allem, weil ich eine neue Familie gefunden habe. Der PIVE war das Beste, was mir in dieser schwierigen Zeit passiert ist.“
Eigentlich ist es die Aufgabe der andalusischen Behörden, sicherzustellen, dass alle Einwohner Sevillas angemessenen Wohnraum haben. Doch das funktioniert schon lange nicht mehr. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre ist die Zahl der Obdachlosen in Spanien um ein Viertel gestiegen. In Andalusien ist die Situation noch schwieriger geworden, seit eine grundlegende Steuerreform im Jahr 2022 die autonome Region zu einer der Provinzen mit der geringsten Steuerquote Spaniens gemacht hat. Vielen Menschen in Not wird ihr Recht auf staatliche Unterstützung und angemessenen Wohnraum verweigert, stellt der Jurist Juan Ramos fest: „Es ist schlimm, wenn die Sozialdienste erst nach Monaten einen Termin vergeben.“ Auch der junge Anwalt mit Stoppelbart und großer Brille arbeitet ehrenamtlich für den PIVE. „In manchen Fällen muss dringend eine Lösung gefunden werden. Dann müssten sich die Behörden sehr schnell kümmern, bevor alles noch schwieriger wird, auch weil viele Personen erst Hilfe suchen, wenn es fast schon zu spät ist.“ Toni Martinez möchte das Selbstbewusstsein von sozial ausgegrenzten Menschen stärken: „Bei uns lernen sie, dass sie Rechte haben, die respektiert werden müssen. Zum Beispiel das Recht auf die Unterstützung der Sozialdienste. Wir begleiten sie durch das Labyrinth der Behörden, unterstützen sie auf der Suche nach einer Sozialwohnung und verteidigen ihre Interessen bei Gerichtsverfahren. Immer ist ein Vertreter des PIVE dabei. Sie sind nicht mehr allein. Als Gruppe sind wir stärker.“
Mobilisierung Betroffener
Der Gewerkschafter Toni Martinez hat jahrzehntelange Erfahrung mit der Mobilisierung Betroffener. Doch seine eigentliche Motivation findet er in seinem Wunsch, dem Beispiel Christi zu folgen. „Wenn Jesus das Unrecht von heute sehen würde, dann würde er es öffentlich machen. Er würde in den christlichen Kirchen von Sevilla sprechen und in den wirtschaftlichen Tempeln der Gegenwart, den Bankgebäuden. Das machen wir auch so. Wir begleiten Familien in die Bankfilialen des Stadtzentrums und erklären den Sachbearbeitern, dass sie Kinder auf die Straße setzen.“
Auch Gerda und ihrem Sohn droht weiterhin eine Zwangsräumung. „Natürlich werden sie mich irgendwann aus meiner Wohnung werfen. Ich vertraue darauf, dass mir der PIVE dann beistehen wird. Aber gegen einen Gerichtsentscheid kann auch Toni nichts machen.“
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