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Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu dir

Die Kalksteinbrüche in der Gegend von Soissons wurden im Ersten Weltkrieg zu Festungen für Kämpfer, die dort in den Stein religiöse Zeichen, Kapellen und Altäre meißelten.
Ausstellung im Generallandesarchiv Karlsruhe
Foto: dpa | Der Träger dieses Helms hatte Pech. Im Karlsruher Generallandesarchiv wurde 2022 ein deutscher Stahlhelm (M 16) aus dem Jahr 1917 gezeigt, der ein Fundstück des sogenannten Winterberg-Tunnels ist, der während der ...

Munter rollende Räder prachtvoller Karossen mag man sich vorstellen am sogenannten Damenweg, dem Chemin des Dames, benannt nach einem zum Schloss La Bove führenden Fahrweg östlich von Soissons auf dem Plateau zwischen den Tälern der Ailette und der Aisne. Er soll eigens befestigt worden sein, um den Töchtern von König Ludwig XV. die Anreisen zum Anwesen von Madame de Narbonne, einer ihrer Hofdamen, zu erleichtern. Allerdings wurde der Weg um 1783 lediglich aufgeschottert, wie man heute weiß, und 1784 ein einziges Mal von den hochadeligen Damen benutzt. Nur eine schöne Legende also, die aber in der zweimal wöchentlich erscheinenden Kriegszeitung der deutschen 7. Armee kolportiert wurde, als 130 Jahre später, ab 1914, im Ersten Weltkrieg der grollende Donner unzähliger Geschütze über diese ländliche Gegend rollte. Man wollte natürlich wissen, was die Bezeichnung „Damenweg“ auf den militärischen Landkarten bedeutete, denn der Höhenzug bildete eine hart umkämpfte Barriere, die auf einer Länge von 25 Kilometern Austragungsort dreier erbitterter Schlachten war. Vier Jahre wogte hier mit geringen Geländegewinnen der Kampf hin und her.

Geistliche Bedürfnisse blieben

Hunderte ehemalige unterirdische Kalksteinbrüche der Gegend, die einst Baumaterial für Kirchen und Klöster geliefert hatten und dann von Bauern als Schuppen und Werkstätten genutzt worden waren, baute man zu Festungen aus. Befehlsstände, Munitionslager, Unterkunftsbereiche und Lazarette konnten in den größeren dieser künstlichen Höhlen sicher vor Beschießungen untergebracht werden. Die Ausgänge führten zu den Schützengräben, in denen die Besatzungen umschichtig Posten bezogen. Wer nach der Ablösung wieder in das feucht-moderige, aber bergende Halbdunkel der unterirdischen Befestigung zurückkehren konnte, war erleichtert. Allerdings kam bald wieder die nächste Wache, und die Sicherheit des Schutzraumes war letztlich auch prekär: Hält die Felslage über dem Hohlraum die fortdauernden Beschießungen aus? Könnte der Feind Giftgas einleiten? Verwandelt sich der vermeintliche Zufluchtsort nicht sogar in eine tödliche Falle, wenn die Zugänge verschüttet werden? „Auf der Erde aushalten, sich in die Erde krallen, sich in der Erde verkriechen, um die Erde zu besitzen, das ist der Krieg“, vermerkte der französische Veteran und Philosoph Louis Lavelle in seinem Kriegstagebuch.´

Man könnte meinen, dass sich in dieser beängstigenden Lage alles nur noch um einfache Lebensbedürfnisse drehte. Offenbar aber erlöschen keineswegs die geistlichen Bedürfnisse in einer solchen Ausnahmesituation, wie sie der Krieg darstellt, denn der eigene Tod kann jeden Moment eintreten und die Erfahrung, selbst töten zu müssen, ist alltäglich. Die Fragen nach dem Sinn, nach einer höheren Geborgenheit und auch nach der eigenen Schuld lassen sich nicht verdrängen. Für Lavelle, der die Hölle von Verdun erlebt hat, ist daher gewiss, dass eine so furchtbare Misere wie der Krieg das geistliche Leben nicht erstickt, sondern im Gegenteil befördert, denn es entwickelt darin „seine ganze Kraft und seine ganze Inbrunst“. Zeugnis dafür sind die religiösen Zeichen und Altäre, die Soldaten beider Kriegsparteien in den unterirdischen Kreidebrüchen am Chemin des Dames und in der Kampfzone westlich von Soissons hinterlassen haben.

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34 Monate in deutscher Hand

Man hatte ja lange Zeit, sich dort einzurichten. Einer der großen unterirdischen Steinbrüche, bestehend aus zahlreichen Hallen und Gängen, die Drachenhöhle, die Caverne du Dragon bei Craonne, etwa war 34 Monate in deutscher Hand. Sie beherbergte eine umfangreiche militärische Infrastruktur, war durch Zwischenwände gegen Gasangriffe geschützt und verfügte über ein ausgefeiltes Leitsystem, das die Orientierung in diesem Labyrinth erleichterte. Der weiche Kalkstein dieser Kavernen ermöglichte die zweckmäßige Umgestaltung und lud zugleich ein, sich dort mit Namen und Datum zu verewigen oder seinen Ängsten und Hoffnungen symbolisch Gestalt zu geben. An den Wänden finden sich neben Grafitti eingemeißelte militärische Zeichen, erotische Fantasien und Sehnsuchtsbilder wie das eines Viermasters unter vollen Segeln, aber eben auch zahlreiche religiöse Symbole: Kreuze mit und ohne Strahlenkranz, Kruzifixe, Kelche mit und ohne schwebender Hostie, Herzen-Jesu, Christus-Monogramme, Fisch und Friedenstaube. Hoffnungszeichen und Verzweiflungsschreie zugleich. „Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu dir.“ Und offenbar war es den Soldaten nicht selten ein Bedürfnis, eine Anbetungsstätte in ihrem Schutzraum einzurichten. In mehreren Höhlen sind in den Stein gehauene Kapellen erhalten, auf deren Ausgestaltung besondere Sorgfalt verwendet wurde. Inmitten des alltäglichen Grauens der Stellungskämpfe haben Steinmetze unter den Soldaten kunstvolle Altäre geschaffen. Wenn sich die Soldaten davor zusammenfanden und unter dem dumpfen Grollen des Gefechtslärms mit ihrem Feldgeistlichen die Messe feierten, mögen sie empfunden haben, was Lavelle nach Ausbruch des zweiten großen Krieges in seinen Reflexionen folgendermaßen ins Wort brachte: „Der Krieg zeigt uns durch die große Entsagung, die er uns auferlegt, dass die geistige Welt die einzige ist, die standhält, wenn alles um uns herum zusammenbricht.“

Gleich neun Kapellen sind während des Krieges in den ehemaligen Steinbrüchen westlich von Soissons entstanden. In einer dieser unterirdischen Festungen haben die französischen Chasseurs Alpins sogar zwei Altäre errichtet. Einer trägt die Inschrift „Eingeweiht am 18.07.1915“, ist also bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn entstanden, mit dem zweiten hat man sich 1916, auf dem Höhepunkt der Kämpfe, noch tiefer in das Höhlensystem zurückgezogen, wo der Gefechtslärm die Einkehr nicht stören konnte und die Angst sich etwas beruhigen ließ. Er ist flankiert von bemerkenswerten, 30 Zentimeter großen Figuren im Gebet kniender Chasseurs. Auch eine jüdische Anbetungsstätte mit eingemeißeltem Davidstern findet sich hier. Reich ausgestattet war die Kapelle des an der Somme selbst schwer verwundeten Feldgeistlichen Père Doncoeur in einer nach dem Kolonialregiment der 1. Zuaven benannten Kaverne. Eine in den Kalkstein geschlagene Treppe auf der rechten Seite der Kapelle führte direkt zum Kampfgraben. Himmel und Hölle also gewissermaßen in unmittelbarer Verbindung.

Religiöse Stätten in besetzten Kavernen

Östlich von Soissons, am Chemin des Dames, haben deutsche Soldaten religiösen Stätten in den von ihnen besetzten Kavernen errichtet. So besaß auch die Drachenhöhle eine eigene Kapelle, von der heute nur der einfach aus Steinen gefügte, freistehende Altar erhalten ist. Außerordentlich fein gestaltet mit zierlichen Säulen und Reliefs an der Frontseite war dagegen ein Altar in der sogenannten Elefantenhöhle. Ähnlicher Machart ist ein weiterer in einem nahegelegenen unterirdischen Truppenquartier mit Sanitätsstation. Auch hier zierten zwei Säulen, auf denen ein angedeutetes Ziborium aufruht, den aus der Kalksteinwand herausgearbeiteten Altar. Auf der Frontseite ist das Jesus-Monogramm IHS eingemeißelt. In der Wand rechts hat man eine Nische für die liturgischen Geräte ausgehöhlt. Eine digitale Rekonstruktion gibt einen Eindruck vom ursprünglichen Zustand des heute beschädigten Altars. Nach einem Foto, das die beiden Erbauer mit ihren Steinmetzwerkzeugen posierend vor ihrem Werk zeigt, war ursprünglich noch links das Eiserne Kreuz angebracht, darüber die Inschrift: „Erbaut 19. Nov. 1915 RIR 30. 7. Komp.“ Deutsche Soldaten der 7. Kompanie des 30. Reserve-Infanterie-Regiments, ein im katholischen Saarland aufgestellter Verband, zeichneten damit also als die Urheber. Französische Soldaten haben 1917, nach Eroberung der Stellung, das Zeugnis ihrer Vorbesitzer abgekratzt. Ein weiteres historisches Foto zeigt eine Christmette in dieser mit Christbaum und Tannengrün an den Wänden geschmückten Kapelle. Rechts an der Wand ist halb abgeschnitten „Frohe Weihnachten“ auf einem Schild zu lesen. Einige der vor dem Altar knienden Soldaten werden kein nächstes Weihnachten erlebt haben. „Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu dir.“

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