Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Strafvollzug

Angst des Täters vor dem Opfer

Im Haftalltag deutscher Gefängnisse spielen die Betroffenen von Straftaten so gut wie keine Rolle. Das soll sich ändern. Ein Ansatz sind Täter-Opfer-Kreise innerhalb von Justizvollzugsanstalten.
Offener Vollzug JVA Bielefeld
Foto: IMAGO/ (www.imago-images.de) | Die JVA in Bielefeld ist Europas größte Anstalt für den offenen Vollzug.

In einem typischen Einzelhaftraum eines deutschen Gefängnisses verhindern Gitter aus Stahlbeton den Sonneneinfall durch ein Fenster mit Hofblick. Solche Betongitter sind auch vor dem Fenster des Büros von Diakon Lothar Dzialdowski. „Wir befinden uns in einer geschlossenen Haftanstalt. Die Inhaftierten verbüßen Haftstrafen für kurze oder auch sehr, sehr lange Zeit.“

Die Justizvollzugsanstalt Bielefeld ist die größte in Deutschland. Lothar Dzialdowski ist mit der Seelsorge in sieben Hafthäusern beauftragt. „Wir liegen hier ziemlich ländlich. Die Gefängnisse sind meist außerhalb der Stadt. Das hat auch damit zu tun, dass inhaftierte Menschen von der Gesellschaft als Aussätzige behandelt werden.“

Manche Gefangene verbringen 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle. „Es ist schon richtig Strafe, mehrere Jahre lang so einzusitzen“, sagt Stefan Exner, grauer Bart, zurückgekämmte Haare. „Das ist kein Urlaub.“ Der 57-jährige Kraftfahrer hat so einen Haftraum während eines Gefängnisbesuchs betreten, als Teilnehmer eines Täter-Opfer-Kreises. Jetzt steht er im Flur seiner Wohnung in einem hübschen Mehrfamilienhaus. Er öffnet die Tür und geht in Richtung Tatort. Über die schreckliche Situation, an die er sich sein Leben lang noch oft erinnern wird, spricht er nicht gerne. „Wenn man Hilferufe hört, dann muss man hin und helfen. Das geht gar nicht anders.“

Stefan Exner
Foto: Boueke | Stefan Exner, ein Mann mit Zivilcourage.

Endlos scheinende Minuten als Opfer

Von der Straße aus blickt er eine steile Böschung hinauf. „Hier stand das Fahrzeug der Frau. Der Mann würgte sie am Hals, aber sie konnte noch panisch um Hilfe schreien. Erst mal habe ich laut gebrüllt: ,Ich komme!‘ Da hat er sie fallen lassen und ist in einem Satz diese Mauer hier hoch. Es ging sofort los. Er brüllte: ,Ich schlag dich tot.‘ Und das hat er dann versucht.“

Der athletische junge Mann packte den deutlich älteren Stefan Exner und schlug ohne jegliche Skrupel auf ihn ein. „Mir war sofort klar: Der ist psychisch krank und in einer Psychose.“ Als erstes bekam er einen Schlag auf die eine Augenbraue, dann auf die andere. Scheinbar endlose Minuten lang hatte Stefan Exner nur einen Gedanken: Überleben. „Bis dann endlich die Polizei auftauchte mit drei Streifenwagen.“

Nach einer ersten Notarztbehandlung folgten sechs Wochen mit Schmerzen und Krücken. Dann konnte Stefan Exner wieder normal laufen. Zwei Jahre später bekamen er und vier weitere Gewaltopfer eine Einladung zur Teilnahme an einem Täter-Opfer-Kreis in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede. Einer der Täter war sehr beeindruckt von Stefan Exners Geschichte. „Vor allem, dass er so Zivilcourage gezeigt hat und der Frau geholfen hat.“ Der junge Mann mit kurzen Haaren und blondem Bart hat die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens im Knast verbracht. Zehn Jahre geschlossener Vollzug, acht liegen noch vor ihm. „Was bin ich für einer? In diesem Kontext bin ich vor allem Täter.“

Lesen Sie auch:

Vier Vorbereitungssitzungen

Die Vorbereitungsphase für den Täter-Opfer-Kreis bestand aus vier Sitzungen, an denen einerseits fünf Straftäter teilgenommen haben. Parallel dazu trafen sich außerhalb der Justizvollzugsanstalt fünf Personen, die alle Opfer einer Gewalttat geworden waren. „Der Sozialarbeiter und die Psychologin der JVA haben uns wirklich gut betreut“, lobt Stefan Exner. „Es ging ja um brutale körperliche Gewalt.“ Die Gruppe bekam ausführlich Gelegenheit, sich auszutauschen. „Wir haben festgestellt, dass alle dieselbe brutale Angst kannten“, erinnert sich Stefan Exner. „Keiner von uns kann einfach unbeschwert auf die Straße gehen.“

Der erste Täter-Opfer-Kreis in Deutschland wurde im Jahr 2016 in der Justizvollzugsanstalt Oldernburg durchgeführt. Danach ermöglichte auch die JVA Bielefeld-Brackwede eine solche Erfahrung. Anfangs nahm der anonyme Häftling nur unter Vorbehalt teil. „Je länger wir uns vorbereitet haben, desto mehr Angst bekam ich. Hört sich vielleicht komisch an, wenn ein Täter sagt: ,Ich hatte Schiss, auf Opfer zu treffen.‘ Aber so war das.“

Treffen im Gottesdienstraum

Zu dem eigentlichen Täter-Opfer-Kreis kam es dann in einem großen Saal der JVA, der sonst als Gottesdienstraum dient. Nie zuvor war der anonyme Häftling so direkt mit den Konsequenzen von Straftaten konfrontiert worden. „Wenn ich jetzt davon erzähle, merke ich schon wieder, wie mies ich mich damit fühle.“ Stefan Exner war anfangs genauso nervös. Doch schon bald fühlte er sich richtig wohl in der Gruppe. „Ich hatte erwartet, dass da große, tätowierte Fieslinge reinkommen, die sich auf den Sesseln lümmeln und so eine Haltung mitbringen: ,Ja, Opfer, Versager. Ich bin besser.‘ Aber das war gar nicht so.“

Jeder Teilnehmer stellte sich vor. Der anonyme Häftling saß links neben Stefan Exner: „Da habe ich gedacht: ,Och, das scheint doch ein feiner Kerl zu sein.‘ Als der dann aber seine Geschichte erzählt hat, und was er in seinem Leben so alles gemacht hat, mit welcher Brutalität er anderen weh getan hat, da war ich erstmal sprachlos.“

Die Betroffenen sollten nicht „ihre“ Täter wiedersehen, sondern die Möglichkeit bekommen, Menschen kennen zu lernen, die ähnliche Taten begangen haben. Diese Konzept findet Stefan Exner gut: „Wir sind Menschen begegnet, die auf der anderen Seite der Gewalt stehen. Auch sie sind Opfer von Umständen. Damit will ich nicht rechtfertigen, was sie getan haben. Mord, Totschlag – das alles geht gar nicht. Aber ich habe das Gefühl, ein bisschen verstanden zu haben, wie es soweit kommen konnte.“

Gespräche, die befreien

Für Betroffene kann es befreiend sein, Gewalttätern zu berichten, welche Konsequenzen die Tat für ihr Leben hatte. Exner erinnert sich an den Bericht eines Mannes, der einen Schlag auf den Kopf bekommen hat: „Mit einem Baseballschläger. Da sieht man heute noch die Delle. Es ging um die Einnahmen seiner Diskothek. Er lag ein Jahr lang im Koma. Da habe ich gedacht: „Oh Scheiße. Es ist ja noch viel Schlimmeres möglich, als was ich erlebt habe.“

Auch die Täter haben von ihren Verbrechen erzählt, einer nach dem anderen. Stefan Exner war schockiert. „Die haben gruselige Dinge getan, mit extremer Brutalität.“ Der anonyme Häftling kannte die Berichte seiner Kameraden aus der Vorbereitung. Doch erst als er sie in der Anwesenheit von Betroffenen hörte, verstand er wirklich, welche Todesangst solche Taten auslösen. „Da habe ich erfahren, dass manche Menschen noch Jahrzehnte später Ängste mit sich rum tragen. Ein Fall lag 20 Jahre zurück. Und trotzdem kamen all die Emotionen immer noch hoch. Da denkst du dir: ,Mein Gott, was habe ich angerichtet.‘“

Stefan Exner kann sich noch gut erinnern, wie sehr ihn diese Scham beeindruckt hat. „Da war ein bulliger Typ, Glatze, schöner Bart. Der konnte sich erst gar nicht überwinden, was zu sagen. Der hat geweint wie ein Schlosshund. Dann hat er doch erzählt, dass er seine schwangere Frau erstochen hat. Der hat sich mehr als geschämt. Und bei den anderen war das auch so.“

Bereichernde Erfahrung

Im Alltag einer Justizvollzugsanstalt wird vermutlich niemand so häufig mit der Scham von Inhaftierten konfrontiert wie der Seelsorger. Lothar Dzialdowski erlebt das immer wieder. „Scham ist eins der heftigsten Gefühle, das Menschen empfinden können.“ Der Religionspädagoge weiß, wie aufschlussreich es für Täter sein kann, wenn ihnen die Konsequenzen ihres Handelns vor Augen geführt werden. Aber auch für die Betroffenen öffnet sich ein neuer Blick auf ihre Erfahrung. „Das Opfer kann besser nachvollziehen, warum der Täter so gehandelt hat. Das hat nichts mit Wiedergutmachung zu tun, oder mit Rache. Es kommt einfach nur zu gegenseitigem Verstehen.“

Nach acht Stunden war der Täter-Opfer-Kreis zu Ende. Stefan Exner hätte gerne mehr Zeit gehabt. „Für uns alle war das eine bereichernde Erfahrung und ich bin mir sicher, dass wir eine positive Veränderung erreicht haben.“

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Andreas Boueke Mord Polizei

Weitere Artikel

Das Holocaust-Gerichtsdrama „Der Zeuge“ schildert den wahren Kampf eines KZ-Überlebenden um Wiedergutmachung.
10.03.2023, 10 Uhr
Norbert Fink
Mit der Ermordung des Politikers und Journalisten Fernando Villavicencio verliert der Kampf gegen Korruption und Drogenhandel seinen wichtigsten Verbündeten.
27.09.2023, 16 Uhr
José García

Kirche

Franziskus bestellt sein Haus: 18 neue Teilnehmer für ein mögliches Konklave. Die übergroße Mehrheit des „roten Senats“ besteht aus „Bergoglianern“.
30.09.2023, 15 Uhr
Meldung
Die Frage der Finanzierung des Folgegremiums zum Synodalen Weg scheint immer noch unsicher zu sein. Konkrete Antworten, wer wieviel zahlen wird, gibt es nicht.
29.09.2023, 11 Uhr
Peter Winnemöller
Vorsitzender der Bischofskonferenz gibt in Abschlusspressekonferenz einen Überblick über die Vollversammlung. 
28.09.2023, 16 Uhr
Meldung