Dieser arabische Terrorist zu meiner Rechten, Bassam Aramin, ist mein teuerster, liebster Bruder.” So augenzwinkernd, lächelnd und zutiefst ernst in punkto Bruder-Aussage pflegt Rami Elhanan seinen palästinensischen Mitstreiter vorzustellen. Hunderte Male hat Elhanan so den Vortrag begonnen, in israelischen und palästinensischen Gymnasien, in Sälen von Australien bis zu den Vereinigten Staaten, in Bildungshäusern und Kirchen zwischen Berlin und Köln, Hamburg und Konstanz.
Elhanan und Aramin verbindet zweierlei – der unsagbare, ewige Schmerz und der Kampf für ein Ende der israelischen Militärbesatzung, für echten Dialog, der – in-shallah – eines Tages in Frieden und Versöhnung mündet.
Trauer um getötete Kinder
Beide haben ihre Töchter in diesem Konflikt verloren, beide beweinen bis heute ihr Kind, das nie erwachsen werden durfte. „Am 4. September 1997, vor 25 Jahren, wurde unsere Blase, unsere heile Welt, in Millionen Stücke gerissen – durch zwei palästinensische Selbstmordattentäter”, bekennt Elhanan, dem man die 72 Jahre nicht ansieht. An diesem Tag verloren fünf Menschen in Jerusalems Fußgängerzone Ben Yehuda ihr Leben, „eine davon war meine 14 Jahre alte Smadar”, die Elhanan liebevoll Smadari – meine Smadar – nennt. An jenem Tag, dem ersten Schultag nach den Sommerferien, wollte sie mit Freundinnen Materialien für das neue Schuljahr besorgen. Elhanan, Graphiker und Designer, beschreibt jenen schwarzen Tag: Wie er mit seiner Familie durch die Straßen Jerusalems rennt, von einer Polizeiwache zur nächsten, von Krankenhaus zu Krankenhaus, auf der fiebrigen Suche nach der Tochter, „lange und frustrierende Stunden” seien das gewesen, um dann spät in der Nacht in einem Leichenhaus das sehen zu müssen, „was du bis ans Lebensende nicht vergessen kannst”. Als er Stunden zuvor von dem Attentat erfahren hatte, hatte er gehofft, dass es ihn nicht treffen, dass „der Finger nicht auf ihn zeigen” werde. Am Ende dieses Tages „steckte der Finger genau zwischen beiden Augen”.
Umgang mit Wut und Last
Sogleich schloss sich die siebentägige jüdische Trauerzeit Shiva an. Unzählige Menschen kommen ins Haus, schütteln einem die Hand, kondolieren. Am achten Tag reiße dieser Strom von Trauergästen abrupt ab. Plötzlich sei man allein, allein mit Fragen wie diesen: „Was soll man mit der unerträglichen Last auf den Schultern anfangen? Und was mit der Wut, die dich von innen heraus auffrisst?” Elhanan spricht bei den gemeinsamen Vorträgen mit Bassam Aramin offen von Vergeltung und Rache. „Wenn jemand dein 14 Jahre altes Mädchen tötet, bist du so wütend, dass du es ihm heimzahlen willst. Das ist natürlich, menschlich, so entscheiden sich die meisten.” Würde das jedoch die Tochter zurückbringen? Den eigenen Schmerz lindern oder erträglicher machen? Das fragte sich der Vater von drei Söhnen und einer ermordeten Tochter. Nach langem, mühsamem Prozess fragte er sich auch: „Wie konnte das passieren? Was lässt jemanden so wütend, so verzweifelt werden, dass er bereit ist, sich mit kleinen Mädchen in die Luft zu sprengen?” Und dann stellte er sich die seiner Meinung nach „allerwichtigste Frage: Wie kann ich verhindern, dass dieser unerträgliche Schmerz anderen zugefügt wird?”
Auf der Suche nach Frieden
In Elhanans Leben gab es ein Jahr später einen anderen wichtigen, wegweisenden Tag. Er traf den Kippa-tragenden Yitzchak Frankenthal, dessen Sohn von der Hamas ermordet worden war und der trotzdem von Frieden sprach. Wie konnte der nur, zürnte Elhanan. Nicht nur das: Er hatte die Organisation „Parents Circle“ (Elternkreis) gegründet. Nun erinnerte sich Elhanan, dass auch Frankenthal unter „den Tausenden von kondolierenden Trauergästen” gewesen war. Nun lud ihn Frankenthal zu einem Treffen des Elternkreises ein. Elhanan kämpfte mit sich. Doch die Neugierde siegte. „Zynisch, distanziert, widerwillig” – mit dieser Haltung habe er „abseits stehend” die Ankunft der Teilnehmer beobachtet. Als die israelischen den Bussen entstiegen, entdeckte er unter ihnen bekannte Persönlichkeiten, ja „lebende Legenden”, die er aus den Medien kannte. Alle hatten einen Angehörigen verloren und waren „trotzdem auf der Suche nach Frieden”.
Das Leben dem Gespräch gewidmet
Dann bemerkte Elhanan, damals 47 Jahre alt, etwas gänzlich Neues, „neu für Augen und Seele”. Palästinensische Hinterbliebene stiegen aus ihren Bussen aus, kamen auf ihn zu, „schüttelten meine Hand für den Frieden, umarmten mich, weinten mit mir”. Eine ältere Frau in traditionellem Gewand trug auf ihrer Brust ein Bild eines sechs Jahre alten Kindes. Elhanan bekennt, dass er da zum ersten Mal im Leben „Palästinenser als Menschen” begegnete, nicht als billige Arbeitskräfte in den Straßen Israels, nicht als sogenannte Terroristen, nicht als Menschen, die beinahe transparent sind, weil Israel alles über sie weiß. Nein. „Als Menschen, die dieselbe Bürde mit sich tragen wie ich es tue, die genau wie ich leiden.” Elhanan war zutiefst schockiert, berührt, ergriffen. Er, nicht religiös, kann sich bis heute nicht erklären, was an jenem Tag vor 24 Jahren mit ihm geschah. Seitdem widmet er sein Leben dem Gespräch. Egal, ob man es hören wolle oder nicht, Elhanan versichert seinem Gegenüber: „Wir sind nicht dem Untergang geweiht oder dem Schicksal verfallen. Es ist nicht unsere Bestimmung, uns gegenseitig in diesem unserem Heiligen Land für immer umzubringen. Wir können das ändern.”
Jahre später traf er Bassam Aramin. Bei dem Palästinenser aus Ost-Jerusalem war es ein Januartag 2007, der alles veränderte: „Meine zehnjährige Tochter Abir wurde von einem israelischen Grenzpolizisten kaltblütig erschossen, als sie mit Klassenkameradinnen vor ihrer Schule stand. Es gab weder Demonstrationen noch Gewalt oder einen Aufstand.”
Das Blut der Menschen hat dieselbe Farbe
Bei Vorträgen in aller Welt oder virtuellen Konferenzen versichert er unaufhörlich: „Wir werden uns weiterhin engagieren und reden, bis die politisch Verantwortlichen uns folgen. Wir haben keine andere Wahl. Wir wollen verhindern, dass weiter Menschen sterben. Ich glaube, wir werden Erfolg haben. Die junge Generation will uns folgen, denn sie glaubt an unsere Botschaft. Wir setzen uns weiterhin ein, damit wir unseren Enkeln in die Augen schauen und sagen können: Wir haben alles versucht.”
Sein Freund Rami Elhanan ist überzeugt, dass der erste Schritt der Annähernung damit anfängt, „dem anderen zuzuhören”. Andernfalls „werden wir nicht den Ursprung seines Schmerzes verstehen können. Dann können wir auch nicht von ihm erwarten, dass er unseren Schmerz versteht. Damit fängt es an und damit wird es enden”.
Der Schmerz – Dreh- und Angelpunkt der mühsamen Versöhnungsarbeit. Elhanan hält ihn für einen „gewaltigen Verbündeten”. Unzählige Male hat er seinem Publikum gegenüber beteuert: „Unser Blut hat dieselbe Farbe, unser Schmerz ist derselbe und unsere Tränen sind gleich bitter. Wenn wir, die wir den höchsten denkbaren Preis bezahlt haben, miteinander reden können, dann kann es jeder! Und jeder sollte es!”
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