Zeit und Ewigkeit

Die Zeit ist ein geheimnisvolles Phänomen. Eines, über das schon Augustinus staunte. Noch geheimnisvoller ist die Ewigkeit, mit der wir der Zeit entrinnen und in Gottes Gegenwart eintreten. Das gilt besonders für die atemlose Echtzeit-Kultur unserer Tage. Im paradoxen Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung sind Christen durch die Taufgnade „schon“ und „noch nicht“ Teil dieser göttlichen Gegenwart. Eine kurze Geschichte der Ewigkeit. Von Benedikt Winkler
Alice im Wunderland
Foto: Sven Hoppe (dpa) | Ksenia Ryzhkova als Alice (r) und weitere Tänzer agieren am 31.03.2017 im Nationaltheater in München (Bayern) während einer Fotoprobe für das Stück "Alice im Wunderland".

Heute sind wir „in Echtzeit“ digital vernetzt und global miteinander verbunden, wir überqueren Zeitzonen und leben in virtuellen Räumen. Längst lassen sich an smarten Armbanduhren nicht nur die Zeit, sondern auch die Herzfrequenz und die tägliche Schrittzahl ablesen. Vieles findet gleichzeitig statt, sodass sich unsere Tätigkeiten in einem Einheitsbrei zielloser und gleichzeitig ablaufender Daueraktivitäten aufzulösen scheinen. Das „intensive Leben“ (Tilman Garcia) der „erfahrungsungeduldigen Erlebnisgesellschaft“ (Ottmar Fuchs) kann über eine gewisse Leere nicht hinwegtäuschen, die sie selbst hervorbringt. Wo bleibt die Muße? Wo bleibt das innere Verkosten der Dinge? Wie verhält sich Zeit zu Ewigkeit?

In ihrer Geläufigkeit verstreicht sie gewöhnlich unbemerkt. Manchmal zerrinnt sie, manchmal entflieht sie. Manchmal dehnt sie sich unerträglich aus oder sie scheint stillzustehen. Die Zeit ist wesentlich Geheimnis, das wusste schon der heilige Augustinus, indem er fragte „Quid est ergo tempus?“ („Was also ist die Zeit?“) „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; mit Zuversicht jedoch kann ich wenigstens sagen, dass ich weiß, dass, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wenn nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. Jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, dass sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist?“ (Confessiones XI, Kap. XIV)

Lange bevor die Zeit mit Uhren chronometrisch beherrscht wurde, prägte ein weitestgehend mythisches Zeitverständnis das Leben der Menschen, welches sich an natürlichen, biologischen und kosmologischen Kreisläufen und Naturrhythmen orientierte. Der Wechsel von Tag und Nacht und die Jahreszeiten prägte das Zeitempfinden der sesshaften Agrarkulturen im Industal stärker als die semitischen Nomaden in der Levante. In Indien entwickelte sich aus der Beobachtung natürlicher Zyklen der Glaube an die Wiedergeburt, während die Stämme Israels den Gott Jahwe verehrten, der mit ihnen geschichtlich unterwegs war.

Für Platon war die Zeit das bewegte Abbild der Ewigkeit. Aristoteles sah die Zeit als „Gezählte“, als ein quantifizierbares Kontinuum. Neben der subjektiv wahrgenommenen Zeit führte er die immerseiende, anfangs- und endlose Zeit auf Gott als den Unveränderlichen zurück, den Garanten ihrer Bewegung und Geläufigkeit. Die alten Griechen kannten verschiedene Wörter für Zeit mit je unterschiedlicher Bedeutung: „chronos“ bezeichnete die messbare Zeit, „kairos“ den subjektiv empfundenen und qualitativen Zeitpunkt und „pleroma“ die gesamte Fülle der Zeit.

Das Charakteristikum der Zeit ist ihre Unerreichbarkeit, ihre bleibende Entzogenheit, ihre Komplexität und ihre Vieldimensionalität. In der Neuzeit beschäftigten sich Naturwissenschaftler wie Isaac Newton mit dem mathematisch-abstrakten Zeitbegriff, während Philosophen die Zeitwahrnehmung im menschlichen Bewusstsein verorteten. Immanuel Kant versuchte den Brückenschlag, indem er die Zeit nicht nur subjektivistisch verstand, sondern sie als eine allgemeine Bedingung der Möglichkeit von Anschauung und Erfahrung beschrieb, die in jedem Subjekt grundgelegt ist. Mit Beginn der Neuzeit gingen Naturwissenschaftler, Philosophen und Theologen vielfach getrennte Wege, indem sie „Chronos“ und „Kairos“ voneinander trennten. Das „Pleroma“ verlor seine Relevanz im modernen Zeitverständnis und geriet in Vergessenheit. Der Mensch wurde immer mehr Herr seiner eigenen Zeit und seiner „entzauberten Welt“ (Max Weber). Wie viele andere Geistesgrößen vor und nach ihm kritisierte Martin Heidegger den einseitigen Zeitbegriff seiner Epoche. Der italienische und bisher wenig rezipierte Philosoph Massimo Cacciari forderte sogar einen gänzlichen Abschied von der „Chronolatrie“ zugunsten alternativer Zeitkonzeptionen.

Während Heidegger das zeitliche Da-Sein als Sein-zum-Tode auf philosophischem Weg ergründete, war es Albert Einstein, der auf naturwissenschaftlichem Weg feststellte, dass jedes Ding und jeder Mensch seine je eigene Zeit hat und dass es keine absolute Zeit im Universum gibt. Mit der allgemeinen Relativitätstheorie entlarvte er das newtonsche und chronosfixierte Weltbild als Illusion. Zeit und Raum mussten fortan als „Raumzeit“ zusammengedacht werden. Auf Einsteins Theorie aufbauend entwickelte der belgische Astrophysiker Abbé Georges Lemaître das Modell des „expandierenden Universums“. Positivistische Naturwissenschaften wie die heutige Quantenphysik brauchen den Faktor t nicht mehr, denn sie gehen von einer in sich gekrümmten Grenzenlosigkeit der Zeit aus. Stephen Hawking beschrieb kurz vor seinem Tod die Zeit als gekrümmt wie die Oberfläche der Erdkugel. Zeit sei grenzenlos, aber das Universum habe einen Anfang und ein Ende.

Während die Wissenschaft im positivistischen Weltbild auf mathematischem Weg nach der ultimativen Weltformel in der Vereinbarkeit zwischen Relativitätstheorie und Quantenmechanik („Grand Unified Theory“) sucht, können sich heute vielleicht Wissenschaft, Philosophie und Theologie einander die Hand reichen in der Erfahrung, dass die eigentliche Zeitform des Universums die Gegenwart ist. In seinem Buch „Zeitenfülle: Annäherungen an das paradoxe Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung“ (Echter Verlag, 2017) schlägt der Theologe Christian Bock Bezug nehmend auf die Vordenker Gisbert Greshake, Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg die „Perichorese“ als Vermittlungsbegriff vor. Das altgriechische Verb „perichorein“ kommt eigentlich aus der Sprache des kultischen Tanzes und bezeichnete ein dynamisches „einander umtanzen“. „Wirklichkeit ist vor diesem Hintergrund weder als statisches Sein noch als rein prozesshaftes Werden interpretierbar, sondern erweist sich durch die perichoretische Simultanität aller temporalen Prozesse, Ereignisse und Daseinsweisen“, im Ineinander von „gebrochener Wirklichkeit (chronos), „durchbrochener Wirklichkeit“ (kairos) und „ungebrochener Wirklichkeit“ (pleroma), „als je konkrete gegenwärtige Wandlung der unermesslich-allumfassenden Wirklichkeit.“

Aus rein naturwissenschaftlicher Perspektive ließe sich sagen, dass die Gegenwart einmal nicht da war und dass sie irgendwann einmal weg sein wird. Christen glauben, dass diese Gegenwart von Gott geschaffen worden ist und dass diese Gegenwart unverlierbar ist. Das ewige Leben, so die Vorstellung Karl Rahners, ist nicht ein Eingehen in eine verklärte Welt, sondern das Eingehen in Gott selbst. Das Ende unserer zeitlich vergänglichen Existenz wäre demnach das Eingehen in Gottes Gegenwart, welche den Chronos erfüllt, verwandelt und erst richtig präsent macht – in einer Erfahrung, die uns durch die zerrissene Zertrennung unserer materiellen Existenz wieder zu einer ganz tiefen Einheit zurückführt. Im paradoxen Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung sind wir als Christen durch die Taufgnade „schon“ und „noch nicht“ Teil der göttlichen Gegenwart, aus der wir nicht herausfallen können.

In der Eucharistie feiern wir die echte Zeit. Wir stellen uns in die Gegenwart Gottes, die nicht erst hergestellt, herbeigezaubert oder herbeimeditiert werden muss, denn sie ist immer schon da. Der Begriff der „Perichorese“ bewahrt und schützt die jeweilige Identität der „Tanzpartner“ und lässt gleichzeitig Raum für gottgewollte Pluralität und Vielfalt. Die Zeit ist dabei nicht nur physikalische Größe oder psychologische Bedingung, sondern immer auch Trägerin von Sinn und Bedeutung. Sie kann geschenkt, verschenkt, vergessen, verpasst und auch verspielt werden. Oder zur existenziellen Frage des Glaubens werden. Bei aller rationalen Unfassbarkeit bleibt sie als die letzte Platzhalterin des verborgenen ewigen Gottes, dessen Tod die Moderne erklärt hat, aber immer eines: rätselhaft und wesentlich geheimnisvoll. „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Spanne verlängern?“ (Mt 6,26f.)

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