Glaubenstiefe

Wie ein katholisches Spießertum überwinden?

An etwas Oberflächlichkeit in der Kirche kann man sich gewöhnen. Dramatisch wird es jedoch, wenn es um die zentralen Fragen unserer Existenz geht und sowohl das Lehramt kneift aber auch die Menschen das Weiterdenken verweigern.
Matjesbrötchen
Foto: dpa | Matjes schmeckt gut, aber auf Katholiken warten größere Schätze.

Bekanntlich ist ja jeder der Spießer des anderen. Doch zum Glück hat Schopenhauer eine recht scharfe Definition dessen formuliert, was er unter einem Philister versteht. Dort heißt es, ein Spießbürger sei „ein Mensch ohne geistige Bedürfnisse“: „Kein Drang nach Erkenntnis und Einsicht, um ihrer selbst willen, belebt sein Dasein, auch keiner nach eigentlich ästhetischen Genüssen. Wirkliche Genüsse sind für ihn allein die sinnlichen: durch diese hält er sich schadlos“. Und: „Geistige Anforderungen werden, wenn sie ihm aufstoßen, seinen Widerwillen, ja, seinen Hass erregen; weil er dabei nur ein lästiges Gefühl von Inferiorität und dazu einen dumpfen, heimlichen Neid verspürt ...“.

Wunderbar, nicht wahr? Schopenhauer gibt uns ein messerscharfes Skalpell in die Hand, mit dem man den Körper der Gesellschaft sezieren kann. Zugegeben: Akademisches Spießertum gibt es auch, und von dieser Schicht lässt sich nun wahrlich nicht behaupten, sie habe „keinen Drang nach Erkenntnis und Einsicht um ihrer selbst willen“. Oder vielleicht eben doch? Kann es nicht sein, dass das akademische Spießertum gerade in der Instrumentalisierung der Erkenntnis zugunsten der eigenen Karriere besteht?

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Das Spießertum hält die Sonne des Glaubens von den Menschen fern

Doch das soll hier und heute nicht unser Thema sein. Es geht um etwas anderes: um das katholische Spießertum, um jenen zähen, grauen Novembernebel, der schier undurchdringlich über den Pfarreien und Kirchen dieses Landes liegt und der die Sonne des Glaubens, die über ihm strahlt, von den Herzen der Menschen fernhält. Dieses katholische Spießertum, das Prälat Wilhelm Imkamp schon vor fast zehn Jahren in dem Klassiker „Sei kein Spießer, sei katholisch!“ hellsichtig diagnostiziert hat, ist nicht zuletzt eine Frage des Erscheinungsbildes und des Geschmacks.

Priester oder Bischöfe in ausgelatschten Mephisto-Schuhen und elefantengrauen C&A-Hemden gehören genauso dazu wie schleiertanzende und urschreitherapierte Gemeindereferentinnen oder neue geistliche Schunkellieder, in denen Jesus und der Heilige Geist geduzt werden. Das alles wäre auszuhalten. Man kann ja wegschauen oder weghören und die Zähne zusammenbeißen. Schlimmer wird es jedoch, wenn sich dieses Spießertum operativen Ausdruck verschafft.

Diese Unbeholfenheiten, Geschmacksverirrungen und Erziehungsmängel
– denn darum handelt es sich meistens –
sind das Ergebnis einer desorientierten, materialistischen und egozentrierten Gesellschaft,
in der jeder seine geistige Reihenhausparzelle bis zur letzten Patrone verteidigt

Kleinkarierte Sitzordnungen, bornierte Pfarramtssekretärinnen, engstirnige Predigten und beschränkte Fürbitten geben dem Problem eine ganz andere Dimension. Ein Beispiel aus der Praxis: Sollte man tatsächlich den Versuch unternehmen, kirchlich zu heiraten, so wird man wahrscheinlich gleich beim ersten Anruf in einem x-beliebigen Kirchensekretariat auf eine Cerbera (i.e.: weibliche Form von Cerberus, der Gleichbehandlung wegen) stoßen, deren gefletschte Zähne die grimmigen Kontaktpersonen bei der Krankenkasse und im Kreisverwaltungsreferat als niedliche Erdmännch*innen erscheinen lassen. Ausnahmen bestätigen die Regel.

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Und natürlich ist das Gegenteil davon ebenso spießig: Jene sich wie eine inkontinente Blase ständig auströpfelnde Liebe für alles und jeden, aber auch das ostentative Sich-Zugehörig-Zeigen zur Phalanx der katholischen Tradition. Diese Unbeholfenheiten, Geschmacksverirrungen und Erziehungsmängel – denn darum handelt es sich meistens – sind das Ergebnis einer desorientierten, materialistischen und egozentrierten Gesellschaft, in der jeder seine geistige Reihenhausparzelle bis zur letzten Patrone verteidigt wie anno dazumal Ernst Jünger seinen Grabenabschnitt vor Verdun. Und wenn es dann darum geht, etwas Bedeutendes von sich zu geben, etwas, das aufhorchen lässt, zum Beispiel in einer Predigt, greift man auf das schale Arsenal populärer Phrasen zurück, die sich mit etwas Geschick immer zum Tagesevangelium hinbiegen lassen.

Die katholische Lehre bedarf der geistigen Anstrengung!

In all dem offenbart sich eine Oberflächlichkeit, die – wäre es nicht eine ausgemachte Katachrese (unstimmige Metapher) – fundamental genannt werden kann. Natürlich sind, um abermals Schopenhauer zu bemühen, „Austern und Champagner“ nicht der Höhepunkt des Daseins des katholischen Spießers. Er begnügt sich mit Matjes-Heringen und Spezi. Nicht einmal im Kulinarischen strebt er nach dem Höchsten, sondern gibt sich mit dem Durchschnitt zufrieden.

Dramatisch ist diese Oberflächlichkeit jedoch, wenn es um die zentralen Fragen unserer Existenz geht, die im Katholizismus verhandelt werden. Und genau hier stellt das katholische Spießertum ein grundsätzliches Problem dar, über das man nicht hinweggehen kann. Die Botschaft des Herrn erfordert „geistige Anstrengungen“ allerersten Ranges, darüber sind wir uns sicher einig. Die katholische Lehre ist kein esoterischer Baukasten, aus dem sich jeder seine Lego-Kirche basteln kann (Schopenhauer: „Es liegt im deutschen Wesen, dass sich der einzelne sein Weltbild selber malt“). Erkenntnishunger wird vorausgesetzt. Aber leider sind wir satt, pappsatt. Unser Bauch wölbt sich wie eine halbe Erdkugel über unsere Füße, die Jesus folgen sollen. Und da ist es auch schon egal, ob auf diesem Bauch ein Kreuz baumelt oder nicht. Der Geist, der diesen Füssen befehlen, der sie permanent auf Trab halten sollte, hat sich von einer agilen geistigen Kommandozentrale schon längst in ein behagliches Biedermeiergemach verwandelt und trägt bequeme Hausschuhe. Reserve hat Ruh‘!

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Die katholischen Spießer aus ihrer bequemen Ruhe aufscheuchen

In jedem halbwegs überzeugten Atheisten steckt mehr Erkenntnisdrang als im durchschnittlichen deutschen Katholiken. Er will wissen, was Sache ist. Er bohrt unerbittlich nach wie ein Holzwurm. Der mittlere Katholik weiß schon längst, worum sich die Erde dreht, und kann sich daher mit ihrer Oberfläche begnügen. Deshalb gibt es auch weniger atheistische als katholische Spießer. Tatsache! Wollen wir das wirklich auf uns sitzen lassen?

Der Spießer, sagt Schopenhauer, bleibt in der Horizontalen: „Er hasst alles Höhere und verabscheut alles Tiefere“. Ins Katholische übersetzt heißt das nichts anderes als: Er hasst den Himmel und verabscheut die Hölle. Auch das hat Schopenhauer schon gesehen: „Kein Spießer wandert aus Passion empor zum Montsalvasch, und keiner steigt neugierig hinab ins Inferno.“ Das nun ist eine wahrhaft schreckliche Erkenntnis für den katholischen Spießer. Aber wagen wir anzunehmen, dass er ihrer inne wird? Es bestehen Zweifel, denn wer nicht einmal der humoristischen Zurechtweisung zugänglich ist, dem ist nicht mehr zu helfen: „Die Philister, die Beschränkten, diese geistig Eingeengten, darf man nie und nimmer necken.“

Ritterlich, begeisterungsfähig, freudig, verantwortungslustig, mitreißend, wagemutig, leidenschaftlich, empor und vorwärts strebend, enthusiastisch, von mir aus auch: rebellisch – das sind Epitheta, die in diesem Artikel bisher nicht vorkamen, weil das Eigenschaften sind, die der katholische Spießer verabscheut. Und er verabscheut sie, weil sie ihm Angst machen, weil sie seine Ruhe stören, weil sie seine kleinwurzelige Hutzelputzelwelt in Frage stellen. Christus aber ist genau deswegen gekommen: um kleinwurzelige Hutzelputzelwelten auszuraufen. Und sie in alle vier Winde zu zerstreuen.

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