In Stuttgart am Rande des Einkaufsviertels liegt St. Mariä Heimsuchung. Der neugotische Kirchenbau aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht seit Kurzem in der Kontroverse, welche Aktivitäten in einem Kirchenraum angemessen sind. Wer die Kirche betritt, könnte denken, Renovierungsarbeiten seien im Gange. Auf dem Boden sind helle unversiegelte Holzplatten ausgelegt. In der Mitte der Kirche sind Tische in einem Kreis angeordnet, die an Tapeziertische erinnern. An den Wänden stehen ebenfalls Bretter. Der provisorische Charakter ist gewollt.
Schamanische Klangheilkunde
Yoga fand schon statt in St. Maria. Auf dem Altar wurden okkulte Orakelkarten ausgelegt. Die Verantwortlichen legten daher fest, dass dem christlichen Glauben widersprechende Veranstaltungen ausgeschlossen sein sollen. Doch 2019 hat am Aschermittwoch eine Tanzperformance stattgefunden. Im Juli 2019 trat ein Klangkünstler mit Gongs, Klangschale und anderen Instrumenten auf, der sich auf seiner Homepage als Gründer des „Institutes zur Förderung der intuitiven Musik und schamanischen Klangheilkunde“ vorstellt. Kleidertauschbörsen werden veranstaltet, Aktionskunst, Vortragsabende, Tanzveranstaltungen, geselliges Beisammensein. Wohlgemerkt, ohne dass die Kirche formell profaniert wurde. Das Allerheiligste ist dort präsent und Gottesdienste finden nach wie vor neben vielen anderen Veranstaltungen statt.
Im Zweiten Weltkrieg erlitt St. Maria schwere Schäden, die notdürftig ausgebessert wurden. Das gotische Erscheinungsbild mit zwei hoch aufragenden schlanken Türmen blieb erhalten. 2017 musste die Kirche wegen dringender Arbeiten an der Decke für drei Monate geschlossen werden. Nach diesen ersten Sanierungsarbeiten soll die Kirche bis zum Beginn der Innensanierung eine Art Aktionsraum für die Stadtgesellschaft sein, ein soziales Reallabor, ein Experiment zur Bürgerbeteiligung.
Beruhend auf der Experimentierphase soll über die künftige Art der Nutzung entschieden werden. Auf einer eigenen Aktionsseite im Internet wird das Projekt „St. Maria als“ vorgestellt. „Wir haben eine Kirche, haben Sie eine Idee?“ Jeder, der wollte, konnte Ideen einbringen. „Was eine Kirche außer Gottesdienstraum noch sein kann“, soll seitdem erprobt werden. Dabei nennen die Projektmacher eine Vielzahl von Möglichkeiten: „St. Maria als Theater, Café, Veranstaltungsraum, Kulisse, Installation, Plattform, Galerie, Marktplatz, Treffpunkt – aber vor allem: St. Maria als Prozess, als Raum des Miteinanders, den wir stetig weiter gemeinsam ausprobieren wollen.“
Es werden Zahlen von 50, 70 oder 80 Gläubigen genannt, die in den letzten Jahren die Sonntagsmesse noch besucht haben. Doch zu ergänzen ist, dass eine portugiesische Gemeinde und eine eritreische Gemeinde St. Maria für Gottesdienste genutzt haben. Die portugiesische Gemeinde ist jetzt in einer hässlichen Betonkirche in einem Stuttgarter Vorort.
Immer noch feiern eine philippinische Gemeinde und jeden Samstagabend eine internationale englischsprachige Gemeinde in St. Maria Gottesdienste. „God is good (Gott ist gut)“, ruft der Spiritaner-Pater Lyimo Gasto aus Tansania, den Gläubigen zu. „All the time (Alle Zeit)“, antworten diese. Die internationale Gemeinde möchte Menschen erreichen, die gerade in Stuttgart sind. Pater Gasto feiert die Messe in seiner Freizeit.
Es gibt auch Widerspruch gegen die Projekte
Dass es Kritik gibt, darf nicht verwundern. Eine Gruppe von Gläubigen, darunter ungefähr die Hälfte mit Migrationshintergrund, setzt sich für eine würdige Verwendung des Kirchenbaus von St. Maria ein. Die Experimente im Kirchenraum sehen sie als Beleidigung Christi im Sakrament des Altars. Sie wissen viele hinter sich, die ähnlich denken.
Die Gruppe hat eine Petition gemacht, sowie Briefe an das Stadtdekanat, das Bistum, die Deutsche Bischofskonferenz, die Berliner Nuntiatur und den Vatikan geschrieben. Nachdem dies nicht die erhofften Ergebnisse brachte, wollen sie jetzt den Weg des Gebets gehen. Sie rufen am 7. September 2019 um 14.30 Uhr zum Sühnegebet vor der Kirche auf.
Das Projekt „St. Maria als“ berührt den Kern des Glaubens. Es wirft Fragen auf. Wer ist Gott? Was ist ein sakraler Raum? Von Edith Stein (1891–1942) wird eine Anekdote berichtet. Im Frankfurter Dom sah sie eine Marktfrau, die ihren Arbeitsalltag unterbrach, um im Dom zu beten. Das einfache Gebet dieser Frau hinterließ einen bleibenden Eindruck bei Edith Stein, der zu ihrer Konversion zum katholischen Glauben beitrug.
Der französische Dichter und Diplomat Paul Claudel (1868–1955) erlebte seine Bekehrung in der Pariser Kathedrale Notre Dame. Im Alter von 18 Jahren hing er den mechanistischen Vorstellungen seiner Zeit an, war in Unmoral verstrickt und empfand zunehmend Verzweiflung. Auf der Suche nach Anregung und aus Langeweile besuchte er am ersten Weihnachtsfeiertag, am 25. Dezember 1886, zuerst die Messe und später die Vesper in Notre Dame. Während des gesungenen Abendgebetes, als der Chor das Magnifikat sang, wurde sein Herz berührt, und er glaubte.
Die beiden Begebenheiten fanden in einem sakralen Raum statt, der für die Verehrung Gottes im Besonderen reserviert ist. Als Gott dem Mose im brennenden Dornbusch erschien, sagte er zu Mose: „Leg Deine Schuhe ab; denn der Ort, wo Du stehst, ist heiliger Boden.“ Die Offenbarung Gottes erfordert eine angemessene Reaktion des Menschen. Das Bundeszelt mit der Bundeslade und später der Tempel in Jerusalem waren sakrale Orte der Gegenwart Gottes. In Kontinuität zum jüdischen Erbe gehörte die sakrale Dimension von Anfang an zum Christentum, wie jüngst zum Beispiel die Forschung des Kirchenhistorikers Stefan Heid zeigt. Heute ist Gott im allerheiligsten Sakrament, das im Tabernakel aufbewahrt wird, in den Kirchen gegenwärtig.
Deshalb sollte auch bei der Verwendung des Kirchenraums für Konzerte immer dessen sakraler Charakter gewahrt bleiben. Nicht alles, was heute als Kunst gilt, kann in einem Kirchenraum stattfinden. Bei Konzerten kann das Allerheiligste aus dem Tabernakel genommen werden und für die Dauer des Konzertes an einem anderen Ort aufbewahrt werden.
Das Projekt „St. Maria als“ gibt dem „brennenden Dornbusch“ nicht mehr viel Raum. Der Kirchenraum wird geradezu dekonstruiert. Doch wer Menschen für die Kirche gewinnen möchte, sollte Zugänge zur Sakralität des Christentums aufzeigen.
Problematisch ist das Experimentieren mit einem sakralen Raum. Um der Heiligkeit Gottes in der Gottesverehrung gerecht zu werden, werden Orte, Gegenstände oder Gebäude als sakral der Gottesverehrung zugeordnet. Ein Aspekt ihrer Sakralität ist, dass der Mensch nicht willkürlich über sie verfügt. Bei einem Experiment ist das Objekt des Experimentes jedoch der Willkür ausgeliefert.
Der „Laborversuch“ soll Vorbildcharakter haben
Bei naturwissenschaftlichen Experimenten wird die Natur quasi auf die Folter gespannt, um Wissen zu erwerben, das zum Beispiel für technische oder medizinische Zwecke verwendet werden kann. Naturwissenschaftliche Experimente dienen der Naturunterwerfung und der Instrumentalisierung von physikalischen, chemischen oder biologischen Zusammenhängen. Wer mit einem sakralen Raum experimentiert, experimentiert mit der Gottheit, der dieser Raum geweiht ist.
Was in St. Maria „im Laborversuch“ mit theologischer Begleitung aus Tübingen stattfindet, soll Vorbildcharakter haben. Die Kirchenverwaltung steht angesichts des Rückgangs der Gläubigen und der Kirchenmitglieder vor der Frage, was mit den zunehmend ungenutzten Kirchenräumen gemacht werden könnte, wie gesellschaftliche Relevanz erhalten wird. Doch die Doppelnutzung eines Kirchenraums als Kirche und Veranstaltungsraum, um irgendwie mit der Gesellschaft in Dialog zu kommen, kann nicht die Lösung sein. Eine solche Doppelnutzung banalisiert den Kirchenraum.
Überraschend an der Kontroverse um St. Mariä Heimsuchung ist, dass es dann doch mehr Menschen als gedacht mit vielfältigen sozialen Hintergründen gibt, denen diese Kirche als Gotteshaus etwas bedeutet, die in dieser Kirche einfach beten möchten, Gott nahe sein wollen und durch eine hybride Nutzung irritiert sind. Das internationale Glaubensleben, das vor der Renovierung an St. Maria noch viel stärker bestand, gibt Hinweis auf das Potenzial dieser Kirche am Rande des Stuttgarter Innenstadt. St. Maria könnte ein Ort der eucharistischen Anbetung sein, der weit über Stuttgart ausstrahlt.
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