Es gibt Dinge, die erscheinen einem so unfassbar schrecklich, dass man sich damit nicht befassen will. Kinder, die sich das Leben nehmen wollen und jene, die es fataler Weise auch schaffen, weil niemand sie hinderte, sie kein Gehör fanden und niemand einschritt. Das ist verstörend, wenn es passiert, und es macht mich zunehmend wütend. Denn all das kommt nicht überraschend, sondern mit Ansage.
Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft in den vergangenen 16 Monaten der Pandemie von Politik und Presse Mantra artig beschworen wurde, man müsse sich dringend um die psychische Situation von Kindern kümmern. Die Schulen sollten wieder öffnen und die Sportvereine erst recht. Fakt ist, dass sich Fußballstadien und Urlaubsflieger offensichtlich schneller wieder füllen lassen als Schulsporthallen und Klassenzimmer.
„Ich fahre im Moment keine Notdienste,
ich ertrage es langsam nicht mehr.“
Ja, man hätte es wissen können. Einige sahen die wachsende Gefahr fast unausweichlich kommen. „Ich fahre im Moment keine Notdienste, ich ertrage es langsam nicht mehr.“ Der Mann, der sich mir gegenüber Luft macht, ist seit sehr vielen Jahren gestandener Notarztwagenfahrer. Jetzt weiß er nicht, wohin mit seinen Erlebnissen und Gefühlen. Wer hört zu? Er sagt, niemand wolle es wirklich wissen, es entzweie gar langjährige Freundschaften, wenn er von seiner Arbeit berichtet. Man glaube ihm nicht. Unterstelle ihm, dass er übertreibe. Manchmal fotografiert er heimlich die Einsatzberichte, Würde er die Dinge an die Presse weiterreichen, wäre es gar strafrechtlich relevant. Datenschutz geht in diesem Land vor Lebensschutz. „Das findet sich ja in keiner aktuellen Statistik, schon gar nicht jene, die wir retten können. Aber ich weiß ja, wo wir im Einsatz waren.“
Früher habe er im Jahr drei bis vier Suizide während seiner Schichten erlebt, heute sei in fast jeder Schicht einer dabei. Das Corona-Jahr mit seinen Maßnahmenpaketen zur menschlichen Isolation offenbarte dabei auch seine hässlichste Fratze: Kinder, die nicht mehr leben wollen.
Er erzählt von mehreren Fällen wo Kinder, Achtjährige, Neunjährige versucht hatten, sich das Leben zu nehmen. Die 17-Jährige, die dann wirklich vom Hochhaus sprang.
Merkel ist sehr betroffen und handelt nicht
Szenenwechsel in den März dieses Jahres: Die Kanzlerin lädt zum digitalen Bürgerdialog. Ein Psychologie-Masterstudent der Internetplattform „krisenchat.de“ berichtet von dramatischen Statistiken: Jedes fünfte Kind, das sich meldet, äußere Suizidgedanken. Die Kinder haben Ängste, vor der Zukunft, vor Corona, vor dem Leistungsabfall in der Schule. Selbstverletzungen und Depressionen hätten massiv zugenommen. Und das hier sind ja nur diejenigen, die sich melden. Die Hälfte dieser Kinder sagte, sie hätten vorher noch nie jemandem ihre Suizidgedanken offenbart. Wie viele Kinder haben wir gerade, die nicht einmal wissen, mit wem sie über ihre Not reden sollen? Die Kanzlerin ist sehr betroffen. Politische Folgen dieses Bürgerdialogs: Keine.
Wollen wir das Leben, oder das Sterben befördern? Unter normalen Umständen müsste selbst unter dieser Kolumne wie in allen Medien ein Warnhinweis stehen und die Nummer eines Hilfetelefons für Menschen mit Selbstmordgedanken. Man sagt mir, selbst die Verwendung des Wortes „Selbstmord“ sei bereits schwierig, es kriminalisiere Selbstmörder. Ich halte das für nachrangig angesichts dessen, dass sie tot sind. Mich interessiert eher, wie wir verhindern, dass sie es tun. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz, denn dann muss man auch darüber reden und berichten. Gerade wenn es zunehmend Kinder betrifft.
Wir müssen reden!
„Vermeiden Sie den drohenden Werther-Effekt“, ruft sofort die Riege der Bedenkenträger. Die Sozialpsychologie kennt den nach Goethes „Leiden des jungen Werther“ benannten, möglichen Kausalzusammenhang zwischen Berichterstattung über Suizide und deren Nachahmung. Sollen wir also besser darüber schweigen, dass in unserer Gesellschaft zunehmend bereits Kinder den Lebensmut verlieren? Wäre das nicht im wahrsten Sinne des Wortes ein „Totschweigen“ einer dramatischen Situation?
Ich möchte eine Gesellschaft, in der wir wieder mehr und leidenschaftlicher darüber sprechen, wie Leben gelingen kann und welchen tieferen Grund es gibt, zu leben. Wir sind es unseren Kindern schuldig.
Sie denken an Suizid, machen sich um jemanden Sorgen oder haben einen Menschen aufgrund eines Suizidtodesfalls verloren? Wenn Sie verzweifelt sind oder Angst haben, dass Sie sich selbst etwas antun könnten:
Rufen Sie bei einer Krisenhotline an:
Deutschland: TelefonSeelsorge: 0800 1110111.
Österreich: Telefonseelsorge: 142
Schweiz: Die Dargebotene Hand: 143
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