Ein Grafikschrank im Kunstmuseum Bern und ein Koffer in der Bundeskunsthalle Bonn bilden den Auftakt der Doppelausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“. In Schrank und Koffer bewahrte Cornelius Gurlitt Kunstwerke auf. Sein vom Vater Hildebrand Gurlitt geerbter Kunstbesitz steht unter dem Verdacht, mit NS-Raubkunst durchsetzt zu sein. Die Ausstellungen in Bern und Bonn nehmen sich des Falles an.
Wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung nahm die bayerische Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Cornelius Gurlitt (1932–2014) auf und beschlagnahmte Anfang 2012 die in seiner Schwabinger Wohnung entdeckten Kunstwerke. Monate später bekamen Medien Wind von der Sache und setzten das Gerücht vom unermesslich wertvollen „Nazischatz“ in die Welt. Zwar hob die Staatsanwaltschaft schließlich die Beschlagnahmung auf. Gleichwohl sah sich Gurlitt veranlasst, mit dem Freistaat Bayern und der Bundesrepublik Deutschland eine Vereinbarung über den weiteren Umgang mit seinem Kunstbesitz abzuschließen. Er willigte ein, dass die Provenienz, also Herkunft der Werke untersucht wird. Obwohl er als Privatbesitzer keineswegs zu Restitutionen, also Rückerstattungen verpflichtet war, erklärte er sich einverstanden, in der Sammlung möglicherweise nachgewiesene NS-Raubkunst den rechtmäßigen Besitzern oder Rechtsnachfolgern zu überlassen. Cornelius Gurlitt starb am 6. Mai 2014. Einen Tag später gab die Stiftung Kunstmuseum Bern bekannt, Gurlitts Alleinerbin zu sein. Mit dem Bund und Bayern traf es Vereinbarungen über den Umgang mit dem Erbe.
Teil der Vereinbarungen ist die aktuelle Doppelschau. Bern zeigt 150 Werke „Entarteter Kunst“. Sie entstammen den auf Befehl der Nazi-Regierung ab 1937 in den deutschen Museumssammlungen durchgeführten Beschlagnahmeaktionen. Cornelius Gurlitts Vater Hildebrand (1895–1956) war einer der vier Kunsthändler, die für die finanzielle Verwertung der rund 20 000 Beschlagnahmungen sorgten. Er übernahm von der „Kommission zur Verwertung der Produkte entarteter Kunst“ 3 879 Werke. Vor allem Arbeiten auf Papier. Die Beschlagnahmung, der Verkauf und Besitz „Entarteter Kunst“ gilt bis heute formaljuristisch als „sauber“, weil der Staat Eigentümer der Kunstwerke war und diese daher auch verkaufen konnte. Raumtexte und Dokumente informieren über die größeren Zusammenhänge und wichtige Ereignisse wie die 1937 in München gestartete Ausstellungstournee „Entartete Kunst“ und die 1939 in Luzern veranstaltete Auktion, auf der das Reichspropagandaministerium 125 der aus den deutschen Museen entfernten Kunstwerke anbot. Die Sammlung „Entartete Kunst“ ist der qualitätvollste Teil des Gurlitt-Erbes. Von Franz Marc etwa ist das aus dem Essener Museum Folkwang beschlagnahmte Aquarell „Sitzendes Pferd“ (1912) zu sehen. Emil Noldes Farblithografie „Fischerkinder“ (1926) war einst im Provinzial-Museum Hannover beheimatet. Bislang unbekannt ist, wie das von Otto Dix gemalte „Selbstporträt, rauchend“ (o.J.) in den Besitz Gurlitts gelangte. Die Provenienz ist in Abklärung, aktuell besteht kein Raubkunstverdacht.
Aber welche Werke gelten überhaupt als „NS-Raubkunst“? Laut der „Washingtoner Erklärung“ von 1998 handelt es sich dabei um „NS-verfolgungsbedingt entzogene Werke“. Die gelangten durch Notverkäufe der entrechteten jüdischen Mitbürger oder durch die Aneignung des Besitzes Deportierter an den deutschen Staat oder Privatpersonen. Auch die von deutscher Seite in den besetzten Gebieten „sichergestellten“ Werke und von Privatpersonen getätigten Notverkäufe gelten als Raubkunst. In der Nachkriegszeit erlassene bundesdeutsche Gesetze sahen vor, dass die Betroffenen oder deren Erben ihren Restitutionsanspruch anmelden mussten. Annahmeschluss der Anträge war der 31. Dezember 1969. Aber seit dem Beitritt der Bundesrepublik zu der von 44 Staaten unterzeichneten „Washingtoner Erklärung“ steht die Restitution der NS-Raubkunst wieder auf der Tagesordnung.
Die Untersuchung seines 1 566 Positionen umfassenden Kunstbesitzes förderte bislang sechs erwiesene Fälle von NS-Raubkunst zu Tage. Zwei von ihnen sind in der Bundeskunsthalle in Bonn ausgestellt. Thomas Coutures Gemälde „Porträt einer jungen Frau“ (1850–1855) gehörte dem französischen Politiker Georges Mandel, den die französische Miliz wohl im Auftrag der deutschen Besatzer 1944 ermordete. Adolph von Menzels Bleistiftzeichnung „Inneres einer gotischen Kirche“ (1875) erwarb Gurlitt 1938 von Elsa Helene Cohen, die als Jüdin Geld für ihre Ausreise aus Deutschland brauchte.
Ausgestellt sind 250 weitere Kunstwerke. Zu vielen Bildern heißt es: „Provenienz in Abklärung“, meistens auch „aktuell kein Raubkunstverdacht“. Sie bieten einen Querschnitt durch den von Hildebrand Gurlitt zusammengetragenen Kunstbesitz. Neben den Nachlässen seines Großvaters und seiner Schwester, die künstlerisch tätig waren, handelt es sich um das Sortiment eines Händlers. Es reicht von christlicher Kunst wie Jan Baegerts Gemälde „Anbetung der Könige“ (1490–1510), Mythologischem wie Albrecht Dürers Kupferstich „Herkules am Scheideweg“ (um 1498) über Stillleben, Marinestücke und französischen Impressionismus bis hin zu Max Beckmanns Lithografie „Die Enttäuschten II“ (1922).
Dokumente und Raumtexte geben Einblick in den Werdegang des 1895 in Dresden geborenen Hildebrand Gurlitt. Seine lebenslange Vorliebe galt der expressionistische Kunst. Ab 1925 förderte er als Museumsdirektor in Zwickau moderne Künstler. Das beschwor Proteste des den Nationalsozialisten nahestehenden „Kampfbundes für deutsche Kultur“ herauf, so dass die Stadtväter seinen Vertrag nicht verlängerten. Ähnlich erging es ihm als Leiter des Hamburger Kunstvereins. Gurlitt trat 1933 zurück. Zwei Jahre später gründete er einen Kunsthandel. Da er eine jüdische Großmutter hatte, überschrieb er das Geschäft sicherheitshalber seiner Frau. Gurlitt bot sich 1938 dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda als Verwerter der beschlagnahmten „Entarteten Kunst“ an. Seit 1941 war er als Kunsthändler im besetzten Frankreich tätig. Er stieg zu einem der wichtigsten Einkäufer für das von Hitler in Linz geplante „Führermuseum“ auf. Ab 1948 leitete er den Düsseldorfer Kunstverein und half, der von den Nationalsozialisten verfemten „Entarteten Kunst“ hohes Ansehen zu verschaffen. Hildebrand Gurlitt starb 1956 an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Um seine wegen großzügiger Leihgaben an Ausstellungen gut bekannte Kunstsammlung wurde es still.
Warum sein Sohn Cornelius die Sammlung ausgerechnet dem Kunstmuseum Bern vermachte, ist unbekannt. Und welchen Anteil das Museum behalten kann, steht noch lange nicht fest. Denn das Museum ist einverstanden, NS-Raubkunst und solche, die es mit hoher Wahrscheinlichkeit ist, der Bundesrepublik zu überlassen. Die kümmert sich um deren Restitution an die rechtmäßigen Besitzer. Zwar läuft das Forschungsprojekt „Provenienzrecherche Gurlitt“ Ende des Jahres 2017 aus, aber für Hunderte „verdächtiger“ Werke sind Forschungsaufträge vergeben. Erst Ende des Jahres 2020 steht endgültig fest, was Bern bekommt und was der Bund mit dem Versprechen der Rückerstattung an Anspruchsberechtigte behält.
– Bestandsaufnahme Gurlitt. „Enartete Kunst“ – Beschlagnahmt und verkauft: Bis 4.3.2018 im Kunstmuseum Bern, Hodlerstraße 12. Di. 10–21 Uhr, Mi.–So. 10–-17 Uhr. Eintritt: 10 CHF.
www.kunstmuseumbern.ch.
– Bestandsaufnahme Gurlitt. Der NS-Kunstraub und die Folgen: Bis 11.3.2018 in der Bundeskunsthalle Bonn, Friedrich-Ebert-Allee 4. Di., Mi. 10-21 Uhr, Do.–So. 10–19 Uhr. Eintritt: 6 Euro.
www.bundeskunsthalle.de.
– Der Katalog aus dem Hirmer Verlag kostet EUR 29,90.