Bei allem Gottvertrauen: Niemand käme wohl auf die Idee, man könne sich das Zähneputzen sparen, denn die reinigende Kraft des Wortes Gottes solle doch genügen. Wir Menschen wissen, dass es Dinge gibt, für die wir selbst Verantwortung haben und die Gott uns nicht abnimmt. Nicht jedem ist bewusst, dass er Verantwortung für sein eigenes Innen hat: „Mehr als alles hüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus.“ (Spr 4, 23) Doch was bedeutet das? Es gibt gesunden Umgang mit sich selbst und ungesunden. Mit Sünde muss das noch nicht einmal etwas zu tun haben. Menschen haben Grundbedürfnisse.
Neben den ganz offensichtlichen wie Nahrung und Schlaf gehören dazu auch menschliche Nähe, Erholung, Schönheit, Freude. Mit erstaunlicher Scharfsicht ermahnt Bernhard von Clairvaux Papst Eugen III., seinen früheren Mönch: „Gönne dich dir selbst! Wie lange noch schenkst du allen anderen deine Aufmerksamkeit, nur nicht dir selber! Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein?“ Kann es sein, dass viele ungute Gewohnheiten und moralische Verfehlungen auch Symptome eines generell unverantwortlichen Lebensstils sind? Das Ankämpfen gegen den unkontrollierten Umgang mit Sexualität, Essen, Alkohol, Medien ist nötig. Noch fruchtbarer ist vielleicht die Frage: Welches menschliche Grundbedürfnis bricht sich da Bahn? Warum habe ich mir einen Lebensstil angewöhnt, in dem dieses Bedürfnis chronisch vernachlässigt wird? Wie sähe ein gesunder Umgang mit diesem Bedürfnis aus? Nicht immer wird die Antwort noch mehr fromme Aktivität sein oder noch mehr schlechtes Gewissen. Habe ich noch ein Gespür dafür, wie es mir geht? Was ich eigentlich bräuchte?
So wie man durch empathisches Zuhören ein offenes Ohr für andere erlernen kann, kann man auch lernen, achtsamer mit sich selbst umzugehen. Wie funktioniert dieses Herz, das Gott in mir erschaffen hat, und das ich „mehr als alles“ hüten soll? Bin ich gut zu ihm? Gebe ich ihm das, was ihm dient oder ignoriere ich es? Wer auf seine Seele nicht hört, dem wird der Körper die Botschaft vermitteln – meist schmerzhafter. Aspekte gesunden Umgangs mit sich selbst sind oft ganz einfache Dinge: Den wöchentlichen Ruhetag einhalten. In die Natur gehen. Herzensaustausch mit einem Freund. Umarmung. Ausreichend Schlaf. Tägliche Gebetszeit. Heilige Schrift. Zeit für sich allein. Genießen und feiern. Kunst, Literatur und Musik. Sport. Oder etwas zweckfrei Schönes, das Freude bereitet. Sind wir uns das wert? Gönnen wir uns selbst nichts, weil wir tief im Inneren die Lüge glauben, dass Gott uns auch nichts gönnt? Es ist die alte Lüge der Schlange zu Eva: Gott will dir das Gute vorenthalten, er gibt dir nicht wirklich das, was du brauchst… Doch unser Vater im Himmel kleidet sogar die Lilien prächtig. Er feiert ein Fest für den heimkehrenden Sohn. Auch von dem älteren will er nicht, dass er sich abschuftet, sondern gönnt ihm die Fülle. Jesu erstes Wunder im Johannesevangelium war eine große Menge besten Weins. Wir haben einen guten Gott. Einen Erlöser, der es gut mit uns meint. Und dürfen lernen, gut mit jenen umzugehen, für die er einen so hohen Preis bezahlt hat: uns.
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