Kultur

„Revolution bedeutet auch, bestimmte Dinge zu bewahren“

Die spanische Autorin Ana Iris Simón beginnt eine Debatte über vermeintliche gesellschaftliche Fortschritte.
Ana Iris Simón, Schriftstellerin
Foto: Guillermo García | Die Schriftstellerin Ana Iris Simón spricht in ihrem ersten Buch „Feria“ über Familie und Mutterschaft. Hierin sieht sie Erfüllung für die Frau und nicht darin, sich in der Arbeit zu verwirklichen.

Keine Schriftstellerin hat in den letzten Jahren in Spanien eine solche Debatte entfacht wie Ana Iris Simón mit ihrem Erstling „Fiesta“ (2020, noch keine deutsche Ausgabe). Die damals 29-Jährige schreibt über ihre Abenteuer als Kind, über ihre Liebe und Verbundenheit zu ihrer Familie, zu ihren Großeltern sowie zu ihren Cousins und Cousinen. In einer einfachen, sehr direkten Sprache geschrieben, setzt „Fiesta“ eine Kindheit in einem kleinen Dorf in La Mancha namens Ontígola aus Erinnerungen, Erfahrungen und Szenenfetzen zusammen.

Ana Iris Simón wurde 1991 in einer kommunistischen Familie geboren. Atheistisch erzogen, ging sie ab ihrem neunten Lebensjahr heimlich zur Kirche. Sie überzeugte ihre Eltern davon, dass sie die Taufe und die Erstkommunion empfangen durfte. Der Titel ihres Romans spielt darauf, dass ihre Schaustellerfamilie von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zog, aber auch darauf an, dass die spanische Gesellschaft ihrer Meinung nach durch Massenkonsum und durch die Gentrifizierung zu einem „Jahrmarkt“ geworden ist.

„Wenn sich die Familie auflöst, dann wird man angetrieben,
dafür zu arbeiten, damit die alten Menschen in den Altersheimen
und die Kinder in den Kindergärten bleiben“

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„Ich beneide das Leben, das meine Eltern führten, als sie in meinem Alter waren.“ Den Satz, mit dem sie ihr erstes Kapitel überschreibt, setzte sie ebenfalls an den Anfang der Rede, die sie hochschwanger im Mai auf Einladung der spanischen Regierung im Rahmen einer Konferenz über Demografie hielt. Aber der Satz wird des Öfteren als Provokation angesehen: „Immer wenn ich ihn laut ausspreche, werde ich von irgendjemand schief angeschaut“, sagt sie. In der erwähnten Rede, die sich im Netz schnell viral verbreitete, führte sie aus, was sie damit meinte: „Mit 29 Jahren, in meinem jetzigen Alter, hatten meine Eltern eine achtjährige Tochter und erwarteten ihr zweites Kind. Meine Mutter arbeitete als Briefträgerin. Meine Eltern hatten eine Hypothek aufgenommen und ein Auto gekauft. Vor allem aber hatten sie die Gewissheit, dass sie ihre Arbeit behalten und die Hypothek würden bezahlen können, und die Hoffnung, dass alles besser werden würde.“

Als Beispiel berichtet sie von ihrem Großvater, der „in den siebziger Jahren mit zwei Hektar Weinbergen acht Kinder ernähren konnte“. Dagegen kämpfe ihr Cousin Rubén, der als einziger Verwandter heute noch Landwirtschaft betreibe, „um den Lebensunterhalt seiner drei Töchter. Und er kann sich glücklich schätzen, eine Familie zu haben, denn die meisten Menschen in meinem Alter haben gar keine“.

Großmutter hatte mehr Möglichkeiten

In „Jahrmarkt“ geht es um den Lebensstil der Generation um die Dreißig und insbesondere um Familie und Mutterschaft, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In einem Fernsehinterview führte Simón dazu aus: „Ich glaube, meine Großmutter hatte mehr Möglichkeiten im Leben, als wir denken. Wir beurteilen ihr Leben aus der Gegenwart heraus; wir denken, damals hätten die Frauen nicht gearbeitet. Meine Großmutter arbeitete aber in der Landwirtschaft. Nur dass sie sich nicht durch ihre Arbeit verwirklichen konnte. Und das ist es, was uns Frauen in meinem Alter gesagt wird: ,Du musst dich durch deine Arbeit verwirklichen‘. Das ist das Paradigma von ,Sex and the City‘.“

Ob junge Frauen heute nicht freier als ihre Mütter und Großmütter seien, wird sie gefragt. Simóns Antwort: „Ich denke, ich habe einen anderen Imperativ: Wir müssen arbeiten, um uns selbst zu verwirklichen.“ In diesem Zusammenhang zitiert sie die ebenfalls junge spanische Schriftstellerin Carolina del Olmo, die darauf hinweist, dass Mutterschaft oft stigmatisiert werde. Denn es scheine, als würde man ein erfülltes und emanzipiertes Leben als Frau aufgeben, das aus Arbeit besteht. Ana Iris Simón: „Ich habe oft das Gefühl, dass ich ein Joch gegen ein anderes ausgetauscht habe.“

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Die Familie ist eine Quelle der Liebe

Auch wenn sie solch „traditionelle“ Ansichten über die Familie äußert, möchte die Autorin nicht in eine Schublade gesteckt werden. Im Fernsehinterview sagt sie: „Die Progressiven haben den Fehler gemacht, zu denken, die Familie sei eine Quelle der Misshandlung, des Leidens für Frauen, dass es nur Ausnahmen gebe und gar keine Regelfamilie. Aber die Familie ist normalerweise eine Quelle der Selbstverwirklichung und der Liebe. Die Konservativen wiederum begehen den gegenteiligen Fehler, zu meinen, dass es eine Norm gibt, die traditionelle Familie, und dass es dazu keine Ausnahmen geben darf, weshalb sie etwa die diversen Familien nicht anerkennen.“

Gegen die Rede von der „toxischen Männlichkeit“ behauptet sie, dass Männlichkeit weiterhin attraktiv sei. Auch mit dem Feminismus setzt sich Ana Iris Simón auseinander: „Vielleicht haben wir die Gleichheit auf der falschen Seite erzielt. Wenn wir versucht haben, den Mythos der romantischen Liebe zu zerstören, dann nicht, weil er schädlich war. Wir haben ihn auch nicht geleugnet, wir waren und sind nur mittelmäßig, und mittelmäßige Menschen mögen es nicht, etwas zu erahnen, das nach dem Erhabenen oder dem Epischen strebt“. An mehreren Stellen von „Feria“ nennt sie unverblümt die Reproduktions- und Hausarbeit als die große Aufgabe für Frauen.

Arbeiten, um die Angehörigen betreuen zu lassen

In einem Interview mit der Zeitung „El Independiente“ vertiefte sie den Gedanken: „Das sozioökonomische Modell hat die Familie aufgelöst. Die Familie wird als ,altmodisch‘ kritisiert. Sie ist aber die große Keimzelle der Solidarität. Und wenn sich die Familie auflöst, dann wird man angetrieben, dafür zu arbeiten, damit die alten Menschen in den Altersheimen und die Kinder in den Kindergärten bleiben. Ist es revolutionär, diese Flucht nach vorn fortzusetzen? C. S. Lewis hat gesagt: ,Wenn es sich herausstellt, dass man auf dem verkehrten Weg ist, ist derjenige, der als erstes umkehrt und zurückgeht, der Fortschrittlichste‘. Seit fünf Jahrhunderten sagen wir: ,Das, was als nächstes kommt, ist besser‘. Der technologische Fortschritt, die Renaissance, der neue Mensch... Aber wir fahren seit einiger Zeit ständig mit dem Kopf gegen die Wand. Es ist an der Zeit zu überprüfen, ob Revolution nicht auch bedeutet, bestimmte Dinge zu bewahren.“

In einem Gespräch mit dem Nachrichtenportal „Aceprensa“ spricht die Autorin über den Glauben an Gott: „Im öffentlichen Diskurs wiederholt sich immer wieder das gleiche Muster: Verbrennen wir das Alte, denn das, was wir später schaffen, wird besser sein, weil es neu ist... Don José Luis, ein Pfarrer aus Ávila, wo ich jetzt lebe, sagte mir neulich, dass der vermeintliche Tod Gottes uns dazu gebracht hat, Polytheisten zu sein und eine Vielzahl von Göttern zu schaffen: Arbeit, Geld, Sport, Freizeit ... Die Ideologie ist einer dieser kleinen Götter, die wir anbeten. Mir wird es immer deutlicher, dass der Mensch ein geistiges Wesen ist.“ In „Der unbewusste Gott“ spricht Viktor Frankl davon, dass Gott da ist, auch wenn wir ihn nicht sehen wollen. Die Art und Weise, wie Atheisten mit dem Tod umgehen, zeigt, dass sie gar nicht so atheistisch sind. Zumindest habe ich das in meiner Familie erlebt. Wir dachten, dass der Tod Gottes an sich etwas Positives wäre, ein Fortschritt und eine absolute Befreiung. Aber der Versuch war auch nicht so toll.“

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