Preußische Sittenbilder

Vor dem 200. Geburtstag Theodor Fontanes: Mit der Kritik an der preußisch-protestantischen Ethik zeigt er Hochachtung vor dem Katholischen. Von José García
Theodor Fontane, nach einem Gemälde von Carl Breitbach (1883).
Foto: IN | Theodor Fontane, nach einem Gemälde von Carl Breitbach (1883).

Es ist ein weites Feld“ – ganze Schüler-Generationen kennen das Zitat von Theodor Fontane, dessen Geburtstag sich am 30. Dezember zum 200. Mal jährt, aus dem Deutschunterricht. Denn Fontane verwendet es in „Effi Briest“ (1896) mit kleinen Variationen mehrfach, am Romanschluss in der Form: „Ach, Luise, lass ... das ist ein zu weites Feld.“ Der Roman entwirft ein komplexes Sittenbild der preußisch-protestantischen Gesellschaft, in der ein sinnentleerter Ehrbegriff zu einer Tragödie führt.

Das Motiv des Ehemanns, der sich mit einem Jüngeren duelliert, der Jahre zuvor eine Affäre mit seiner Frau hatte, erscheint bereits in „Cécile“ (1887), der etliche Handlungsstränge von „Effi Briest“ vorwegnimmt. In „Cécile“ wird ausdrücklich auf „das Gerede der Leute“ Bezug genommen, das schon früh als unheilvolles Omen in die Handlung eingefügt wird. Dies treibt der wohl größte deutsche Erzähler des 19. Jahrhunderts jedoch in „Schach von Wutenow“ (1883) auf die Spitze. Basierend auf wahren Tatsachen handelt die Erzählung von einem adligen Offizier, der zwar die Witwe Josephine von Carayon umwirbt, aber einmal deren Tochter Victoire verführt. Victoire war als junges Mädchen eine gefeierte Schönheit, aber nun ist deren Gesicht durch die Blattern entstellt. Nachdem die Mutter den preußischen König um Fürsprache gebeten hat, und der Monarch Schach an seine „Pflicht“ erinnert, willigt der Offizier in die Hochzeit ein. Sofort nach der Heirat gibt sich Schach von Wutenow buchstäblich die Kugel, um nicht den Spott seiner Regimentskameraden ertragen zu müssen.

Die Männer scheitern meistens an Konventionen

In anderen Fontane-Romanen enden amouröse Liaisons zwar weniger tragisch. Dennoch wird seine Kritik an solchen Zuständen deutlich. In „Irrungen, Wirrungen“ (1888) behandelt der Autor die nicht standesgemäße Liebe zwischen einem Baron und Offizier und der kleinbürgerlichen Lene, obwohl die beiden von Anfang an wissen, dass ihre Liebe unmöglich ist. Die liebenswürdige Schneidermamsell besitzt eine für ihr jugendliches Alter bemerkenswerte Lebensweisheit: „Und (ich) weiß auch, dass du (der Baron) deine Lene für was Besondres hältst und jeden Tag denkst, ,wenn sie doch eine Gräfin wäre‘. Du liebst mich und bist schwach. Daran ist nichts zu ändern. Alle schönen Männer sind schwach, und der Stärkre beherrscht sie... Und der Stärkre... ja, wer ist dieser Stärkre? Nun entweder ist's deine Mutter oder das Gerede der Menschen oder die Verhältnisse. Oder vielleicht alles drei.“

Die Männer sind bei Fontane häufig zu schwach, um sich über die Konventionen hinwegzusetzen. Auch in „Frau Jenny Treibel“ (1893) widersetzt sich die titelgebende Protagonistin, eine gesellschaftlich aufgestiegene Krämerstochter, mit Erfolg dem Ansinnen ihres Sohnes Leopold, sich mit der Tochter eines Gymnasialprofessors zu verloben.

Die meisten der Werke Fontanes spiegeln eine besondere Vertrautheit mit den Straßen und Plätzen Berlins sowie mit den Landschaften der Mittelmark wider, die der Autor akribisch beschreibt. Insofern fallen zwei weitere Romane aus dem Rahmen. „Unwiederbringlich“ (1892) ist in den Jahren 1859 bis 1861 in Schleswig angesiedelt, das zu dieser Zeit von Dänemark verwaltet wurde.

Eine besondere Stellung in Fontanes Werk nimmt der Roman „Graf Petöfy“ (1884) ein, zunächst einmal deshalb, weil dessen Handlung in Wien und Ungarn angesiedelt ist. Wichtiger aber als der Handlungsort ist das katholische Milieu, in dem sich der Roman abspielt – etwas Einzigartiges in Fontanes Oeuvre. Fontane lehnt sich in seiner Erzählung an wahre Tatsachen an. Vom Geschlecht der ungarischen Grafen Petöfy leben nur noch drei Vertreter: Die wohl in den Siebzigern stehenden Geschwister Graf Adam und seine Schwester Judith wohnen in Wien in einem Doppelhaus. Ihr Neffe Egon, Sohn einer bereits verstorbenen Schwester der beiden, besucht sie oft.

Die seit vielen Jahren verwitwete Gräfin Judith lernt die junge norddeutsche, protestantische Schauspielerin Franziska Franz kennen. So kommt es, dass Graf Adam der Mimin einen Heiratsantrag macht. Im Unterschied zu den bereits erwähnten Romanen spielt in „Graf Petöfy“ der Standesunterschied keine Rolle, genauso wenig wie die unterschiedliche Konfession. Lediglich der Altersunterschied erscheint Franziska zu hoch. Dennoch willigt sie in die Heirat ein, obwohl sie befürchtet, dass sie sich mehr nach den Wünschen ihres zukünftigen Gatten wird richten müssen, als sie wirklich kann. In der Tat: Nach der Übersiedlung auf das Stammschloss Arpa in Ungarn wird Franziskas Leben immer mehr von Langeweile geprägt.

Erst als Egon dorthin kommt, lebt sie wieder auf. Es kommt zu einer Annäherung zwischen den beiden. Später wird der Graf bemerken, dass sein Neffe einen Ring aus Franziskas Besitz trägt. Statt aber Egon zur Rede zu stellen oder sich gar mit ihm zu duellieren, beschließt er, dem jungen Paar nicht im Wege zu stehen. Graf Adam stirbt „an Melancholie“. Erstaunlich ist jedoch Franziskas Reaktion: Sie lehnt eine Heirat mit Egon ab. Stattdessen will sie das ungarische Gut verwalten, und sich als Gräfin würdig erweisen. Noch bemerkenswerter ist es, dass sie dabei im katholischen Glauben Zuflucht sucht.

Früher einmal hatte sie nur ein Lächeln für Judith übrig, als die alte Gräfin sie fragte, ob in ihren protestantischen Kirchen auch „ein Bild der Jungfrau Maria“ hänge. Nun trägt sie selbst einen Rosenkranz und lässt „die Perlen desselben eine nach der andern durch ihre Finger gleiten“. Bezeichnend nimmt sich in diesem Zusammenhang der Dialog zwischen Franziska und der alten Gräfin Judith aus, mit dem „Graf Petöfy“ schließt. Auf Judiths Frage, wer sie nun schützen soll, da sie Egon abgelehnt hat, antwortet Franziska: „Ich denke sie, die schon so viele Gräfinnen Petöfy beschützt hat. Und sie wies auf die Nische, daraus das Bild der Maria niederblickte.“

Der für einen Fontane-Roman ungewöhnliche Schlusssatz korrespondiert denn auch mit einer Darstellung des katholischen Klerus in „Graf Petöfy“. Dies gilt etwa für den Jesuitenpater Feßler, aber auch für den Pfarrer im ungarischen Dorf nahe dem Schloss der Petöfy. Fontane diktiert Franziska folgende Worte über diesen Kuratus von Szegenihaza in die Feder: „Gescheit und fromm, dabei persönlich ohne jedweden Anspruch, gehört er ganz jenen selbstsuchtlosen und aller Eitelkeit entkleideten Geistlichen zu, denen man in Ihrer Kirche häufiger begegnet als in der unsrigen“, schreibt sie der alten Gräfin Judith.

Vor dem Tod Trost bei der Kirche gefunden

Mit der ausnehmenden Hochachtung, die dem Katholischen in „Graf Petöfy“ zum Ausdruck kommt, korrespondiert auch das Ende von „Cécile“: Die aus Polen stammende Cécile war zwar zum protestantischen Glauben konvertiert. Im Angesichts des Todes sucht sie aber wieder Trost bei ihrer angestammten Kirche.

Der am 20. Dezember 1819 geborene Theodor Fontane starb 78-jährig am 20. September 1898. Obwohl er erst mit 57 Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte, hinterließ der Neuruppiner Schriftsteller außer Reiseberichten und Gedichten etwa 20 Romane und Erzählungen. Mit feiner Selbstironie bemerkte er freilich am Ende seines Lebens im Gedicht „Summa summarum“: „Altpreußischer Durchschnitt, Summa Summarum,/ Es drehte sich immer um Lirum Larum/ Um Lirum Larum Löffelstiel./ Alles in allem – es war nicht viel.“

Zum 200. Geburtstag von Theodor Fontane finden im Laufe des ganzen Jahres unterschiedliche Veranstaltungen statt. Die Leitausstellung „fontane.200/Autor“ im Museum Neuruppin (August-Bebel-Straße 14/15, 16816 Neuruppin) bietet insbesondere bemerkenswerte Einblicke in die Arbeitsweise des Schriftstellers.

Themen & Autoren
Kirchen und Hauptorganisationen einzelner Religionen Pfarrer und Pastoren Theodor Fontane

Weitere Artikel

Im Rahmen der Wiener Poetikdozentur „Literatur und Religion“ fragte der Schriftsteller Martin Mosebach: „Was ist der katholische Roman?“
21.11.2022, 19 Uhr
Martin Kolozs
Werden Romane noch der Wirklichkeit gerecht? Literaturkritik erschwert diesen Zugang.
11.07.2020, 08 Uhr
Klaus-Rüdiger Mai
Er hat sich aus einem Arbeitermilieu in ein eher intellektuelles Künstlermilieu bewegt und behielt dabei einen politisch roten Grundton: Der Würzburger Romancier Leonhard Frank sehnte sich ...
15.09.2021, 09 Uhr
Urs Buhlmann

Kirche

Die Debatte um Johannes Paul II. hat für einige Überraschungen gesorgt. Wie geht es nun weiter?
24.03.2023, 11 Uhr
Stefan Meetschen
Dokumente sollen nicht bestätigen, dass „Missbrauchspriester“ Saduś ein Pädophiler gewesen sei – Aktuelle Umfrage: Mehr Polen betrachten Johannes Paul II. als Autorität.
24.03.2023, 09 Uhr
Stefan Meetschen
Placido Riccardi trat am 12. November 1866 in Sankt Paul vor den Mauern in den Benediktinerorden ein und legte am 19. Januar 1868 die einfachen Gelübde ab.
24.03.2023, 21 Uhr
Claudia Kock
Der Campo santo in Rom hat einen neuen Rektor: Konrad Bestle, Augsburger Priester und bisheriger Kurat der deutschsprachigen römischen Pfarrgemeinde Santa Maria dell’Anima.
23.03.2023, 21 Uhr
Guido Horst