Corona, Corona und nochmals Corona. Ein Virus infiziert nicht nur unsere Gesellschaft, sondern mithin unser gesamtes Handeln und Denken. Er macht uns nicht nur krank, sondern auch einsam. Er führt zum Aufbrechen aller sozialer Strukturen, bis wir inmitten der Gemeinschaft eine Summe von Inseln bilden. Die Risiken sind bekannt, doch welche Chancen bieten sich? Wie so oft in bewegten Zeiten weiß möglicherweise die Literatur, mithin ein ganz bestimmtes Genre, Rat zu geben, nämlich die sogenannte Robinsonade. Ausgehend von Daniel Defoes Klassiker „Robinson Crusoe“ aus dem Jahr 1719 hat sich eine eigenständige Werktradition begründet, deren Zentrum einschneidende und existenzielle Isolationserfahrungen bilden.
Als der Held des weltberühmten Abenteuerromans nach einer Schiffshavarie auf einem verlassenen Eiland strandet, muss er sich abseits jedweder Zivilisation ein neues Leben aufbauen. Was der Autor uns Schritt für Schritt vor Augen führt, ist die prototypische Errichtung einer Gesellschaft im Mikrokosmos: von der Einnahme und Kultivierung von Land, der Viehhaltung, bis hin zur Entwicklung einer Sozialstruktur, die mit der Integration des Einheimischen Freitag erfolgt. Zugegeben, der Protagonist des Werks mag erfolgreich sein, seine Methoden erscheinen jedoch aus heutiger Sicht mehr als fragwürdig. Denn um zu überleben, zieht Robinson alle Register einer imperialen Politik. Er führt Krieg gegen den indigenen Inselstamm, der als kannibalisch und überhaupt unterentwickelt geschildert wird, er unterwirft und schlachtet die Tiere, regiert über die Natur und ordnet seinen Begleiter seinem Regime unter. Dennoch: Der Roman ist die Geschichte einer Bewährung in einem unwirtlichen Gebiet. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, stellt sich Defoes Hauptfigur den widrigen Umständen und findet überdies, am hoffnungslosesten Ort überhaupt, zu Gott.
" Der Roman ist die Geschichte einer Bewährung in einem unwirtlichen Gebiet. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, stellt sich Defoes Hauptfigur den widrigen Umständen und findet überdies, am hoffnungslosesten Ort überhaupt, zu Gott."
Viele Autoren haben den Stoff im Laufe der Jahrhunderte entdeckt und variiert. Immer wieder spiegelt sich dabei der Geist der Zeit in den Annäherungen an den literarischen Archetypus. Joachim Heinrich Campe veranschaulicht etwa in seiner Überschreibung die Evolution des vernunftbegabten Menschen der Aufklärung, Johann Karl Wezel nutzt das Werk, um im 19. Jahrhundert, einer Epoche der Kollision politischer Konzepte zwischen Demokratie und Sozialismus, die Frage nach dem Funktionieren und Scheitern von staatlichen Systemen aufzuwerfen.
Auf vielfältige Weise reflektiert das Genre zentrale Überlegungen der Condition d?humaine in der Moderne. Spätestens nachdem im Fin de Siecle zunehmend dystopische Vorausahnungen in die Literatur einziehen, erweist sich die Robinsonade als Projektionsfläche für allerlei Weltuntergangsszenarien. Arno Schmidt zeichnet etwa in „Schwarze Spiegel“ (1951) eine postapokalyptische Welt, in der ein einsamer Überlebender durch die Ruinen der Zivilisation vagabundiert, um Nahrungsmittel zu finden. In Friedrich Dürrenmatts Hörspiel „Das Unternehmen der Wega“ (1954) steht der Erde hingegen die Katastrophe noch bevor. Überschattet vom Kalten Krieg, handelt die Story von einer Raumsonde auf dem Weg zum unwirtlichen Meeresplaneten Venus. Wer dort auf einem Boot sein Dasein fristet, wurde zuvor als Verbrecher oder Oppositioneller verbannt. Nun ringen amerikanische Politiker um die Unterstützung der Aussätzigen im Kampf gegen die Oststaaten. Als sich diese jedoch weigern, löschen die Unterhändler den Himmelskörper mit einer Bombe aus.
Hoffnung selbst am absoluten Nullpunkt
Die Kriege, die großen Entfremdungen, die Orientierungslosigkeit und Sinnkrise in der abendländischen Kultur – all diese Einzelprozesse kulminieren in die moderne Erschütterung unseres Menschen- und Weltbildes und rufen Ängste und Verlusterfahrungen hervor. Die Robinsonaden greifen sie auf und zeigen uns als sich behauptende Wesen, als Widerstandskämpfer. Tröstlich mutet in diesen dunklen Abgesängen auf das 20. Jahrhundert allen voran die Erkenntnis an: selbst am absoluten Nullpunkt besteht die Möglichkeit, eine Wende herbeizuführen.
Diese Botschaft gilt mitnichten nur für Männer, um die herum sich das gesamte Genre lange Zeit gruppiert. Defoes, Campes und Wezels Helden erweisen sich als Gallionsfiguren patriarchaler Machtverhältnisse. Die Repression von Natur und Umwelt wird als genuin maskuliner Eroberungshabitus inszeniert. Die Öffnung des Genres leitet – allerdings unter ironischen Vorzeichen – letztlich Gerhart Hauptmann mit seinem Werk „Die Insel der großen Mutter oder das Wunder von Iles des Dames“ (1924) ein. Darin haben wir es mit einer Großgruppe von Frauen, vornehmlich aus der Oberschicht, zu tun. Nach den Erfahrungen der Unterdrückung im Heimatland begründen sie einen Amazonenstaat mit eigenen Göttern. Man gibt sich autonom und unabhängig von den ohnehin einstmals nur zur Last gewordenen männlichen Gefährten, bis auf einmal eine der Bewohnerinnen der Insel schwanger wird. Dass sich tatsächlich ein potenter Knabe auf dem Eiland befindet, der den Puls der erregten Damen hochschnellen lässt, wird zunächst geleugnet. Von einer unbefleckten Empfängnis ist die Rede. Je mehr die Moral von der Männerabstinenz an Bedeutung verliert, desto mehr zerbricht das Kunstgebilde des feministischen Staates. Man kann diesen Text als eine krachende Karikatur auf die frühe Frauenbewegung und nicht zuletzt auf den damals zeitgenössischen Okkultismus lesen. Hauptmanns Augenmerk galt nicht der Metaphysik, ihm, dem Naturalisten schlechthin, ging es um die Schilderung der Wirklichkeit.
Von welcher Autorin wir in unseren bizarren Tagen zwischen Alleinsein und Nervosität, Kontaktsehnsucht und häuslichem Rückzug am meisten lernen könnten, dürfte Marle Haushofer mit ihrem epochalen Roman „Die Wand“ (1963) sein. Im Zentrum steht eine Ich-Erzählerin auf einer Berghütte, von der sie nicht mehr zurück ins Tal gelangt, weil eine rational nicht zu fassende, unsichtbare Barriere unversehens den Weg zurück in die Zivilisation versperrt. Wie Robinson muss sie sich in und mit der Natur arrangieren. Ihr Weg entspricht jedoch nicht jenem der Unterdrückung und Ausbeutung. Gemeinsam mit einigen zu Freunden avancierenden Hoftieren sucht sie einen von Respekt geleiteten Umgang mit Flora und Fauna. Die Aussage: Während der maskuline Zugang zur Welt von Gewalt und Formung gezeichnet ist, steht der weibliche im Zeichen von Sorge, Pflege und Nachhaltigkeit.
Die Isolation als Einladung zur Reflexion verstehen
Übertragen auf die Effekte von Corona, legt Haushofers Werk den Schluss nahe, die Krise als Anlass zu begreifen. Mehr denn je gilt es über unser Verhältnis zur Natur nachzudenken. Viele sehen in dem Infekt intuitiv deren Aufbegehren gegen humane Dominanz. Überdies, so scheint es zumindest, ist zu vermuten, dass das Virus wie schon viele Erreger vor ihm vom Tier ausging, was nicht zuletzt Implikationen über unsere Ernährungsweisen zulässt. Sowohl die Entstehung von SARS als auch MERS hängen mit der perversen Massentierhaltung und milliardenfachem Tierleid zusammen.
Corona ruft uns in Zeiten des Klimawandels zu einer neuen Achtsamkeit auf und dokumentiert, wie fragil und gefährlich der sich über Jahrhunderte verfestigte Anthropozentrismus geworden ist. Dass wir der Epidemie nicht ohnmächtig ausgesetzt sind, veranschaulicht unser Fortschritt. Wir müssen die Isolation als Einladung zur Reflexion sehen. Selten waren Zeiten von so umfassender und elementarer Wucht erfasst. Diese Kraft erfordert nun auch grundsätzliche Antworten. Auf unseren literarischen Inseln können wir nun lesen und nachdenken, um sie in besseren Tagen wieder zugunsten eines gemeinsamen Grundes zu verlassen.
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