Dieses Buch könnte Furore auslösen. Es handelt sich um eine wissenschaftliche Untersuchung über die Qualität in deutschen Kitas, insbesondere den Krippen. Apropos: Schon der Begriff Kita ist verwirrend. Er unterscheidet nicht zwischen Krippen und Kindergarten, zwei fundamental unterschiedliche Lebensphasen des Kindes. In der ersten Phase (die ersten zwei Jahre) sprechen die Wissenschaftler von der Dyade zwischen Mutter und Kind, in der zweiten (meist ab drei Jahren bis zur Einschulung) löst sich das Kind aus der psychischen und meist auch biologischen Abhängigkeit von der Mutter und fängt an die Welt zu erforschen. Was aber passiert im Jahr zwei bis drei? Und wie kann man den Kindern helfen, in die Welt hinein zu forschen ohne dabei Schaden zu nehmen? Wie hoch ist das Krippenrisiko?
Eine Forschergruppe um den Psychologen, Psychiater sowie Verhaltenstherapeuten Professor Serge Klaus Dieter Sulz ist diesen Fragen nachgegangen und hat über Jahre hinweg anhand wissenschaftlicher Befunde in den Universitäten und empirischer Beobachtungen von Erzieherinnen in Krippen und Kindergärten die Qualität von Kitas erforscht. Unter dem Titel „Schadet die Kinderkrippe meinem Kind? Worauf Eltern achten und was sie tun können“ erscheinen die Ergebnisse im Juni in Buchform im Verlag CIP-Medien, München. Mitherausgeber sind Alfred Walter und Florian Sedlacek. Das Team ist jeder Ideologie fremd und schon deshalb dürfte es den Krippenideologen schwerfallen, die Arbeit anzugreifen. Man darf damit rechnen, dass die Ergebnisse in Politik und Medien, in der Wirtschaft sowieso, in Zweifel gezogen werden und zwar argumentationslos, so wie man es schon beim Betreuungsgeld oder in der Krippendebatte getan hatte.
Das Besondere an der Arbeit der Forschergruppe ist das Bemühen, die Ergebnisse auf den praktischen Alltag herunter zu brechen. So haben die Forscher eine Krippenampel entworfen, die die wichtigsten Fragen beantwortet, die Eltern haben könnten. Dabei begegnen die Autoren den Eltern durchaus mit Verständnis, etwa wenn sie sagen: „Diejenigen von Ihnen, die in einer finanziell schwierigen Situation sind, so dass Sie einfach arbeiten und Ihr Kind in die Kinderkrippe geben müssen, sollten sich jetzt nicht aufs Neue Schuldgefühle machen. In einer Familie wird nicht nur Freud, sondern auch Leid geteilt – auch mit den Kindern. Nur wenn Sie finanziell nicht in Not sind und zwischen verschiedenen Vorgehensweisen wirklich wählen können, kann diese Kinderkrippen-Ampel ein hilfreicher Qualitäts-Check sein“. Sie wenden sich aber auch an die „lieben Politiker“ und stellen die Verantwortlichkeiten klar, indem sie den Politiker sagen: „Sie tragen die Verantwortung für die extrem schwierige Lage junger Eltern. Sie haben die Macht, das zu ändern und dafür zu sorgen, dass diese echte Wahlmöglichkeiten haben und nicht einfach die nächstbeste Kinderkrippe nehmen müssen.“ Und sie wenden sich an die Kinderkrippen-Träger, mithin auch an die Kirchen: „Sie haben die Chance, sich aus der großen Masse schlechter Kinderkrippen hervorzuheben und zu einer zukunftsweisenden hoch qualifizierten Kinderbetreuung beizutragen.“
Die Kinderkrippen-Ampel nun gibt bei GRÜN an, was eine gute Krippenqualität ist. Bei ROT sind die sehr häufigen Qualitätsmängel genannt, die eine Kinderkrippe disqualifizieren und nicht vorkommen dürfen. Bei GELB schreiben die Autoren: „Wie im Straßenverkehr ist es bedenklich, so weiterzufahren. Gute Qualität ist nicht gewährleistet. Trotzdem ist so eine Kinderkrippe doppelt so gut wie eine aus dem roten Bereich.“ Zu der langen Liste von Qualitätskriterien, die aus wissenschaftlicher Forschung, Experten-Urteilen und Erfahrungen von ErzieherInnen hervorgehen, gehören beispielsweise: Ab welchem Alter ein Kind aufgenommen werden soll; wie lange die Krippe ein Kind pro Tag behalten soll; wie lang die Eingewöhnungszeit dauern kann; wie der Personalschlüssel in der Kita aussehen soll, wenn die Erziehungsarbeit nicht in die Devise „satt, sauber, beschäftigt“ abgleiten soll; ob das Kind nur eine konstante, nicht wechselnde Bezugs-Erzieherin hat oder mehrere („ein Kind sollte überhaupt keinen Wechsel der Bindungs-Person erdulden müssen“); wie groß die Kindergruppe ist; ob Betriebsferien gemacht werden und dann die Eltern das Kind nehmen oder ob es stattdessen Urlaubsvertretungen geben soll; ob die Essenszeit individuell bedürfnisorientiert möglich ist, ob Kinder ohne Hunger zu festen Zeiten ihren Teller leer essen müssen; ob die Schlafzeit individuell bedürfnisorientiert ist oder es feste Schlafzeiten für alle gibt, egal wann das Kind müde ist und Schlaf braucht; ob für ein Kind eine Rückzugsmöglichkeit existiert, damit es nicht ständig der Gruppenstimulation ausgesetzt ist; ob die Erzieherin morgens und nachmittags Zeit für die Übergabe von den oder an die Eltern haben soll; ob ein Problemkind Einzel-Betreuung erhält, damit der Stress nicht auf alle Kinder übergeht; ob Mutter/Vater geholt werden, wenn es schwierig wird.
Die Liste der Kriterien ist länger. Fast immer geht es um die Bindung zwischen Kind und Eltern oder Kind und Erzieherin. Das ist auch die Hauptsache in diesem Alter. Ohne Bindung können weder Urvertrauen noch Selbstvertrauen entstehen. Eine gute Bindung ist auch eine unverzichtbare Voraussetzung für gute Bildung. Die Wissenschaft weiß das schon lange und hat es so formuliert: Bindung geht der Bildung voraus. Denn auf Emotionen – sie sind der seelische Kitt der Bindung – fußt die Kommunikation, aus Emotionen entsteht Sprache. Sprache ist das Mittel des Denkens und Lernens. Wenn wegen des demografischen Niedergangs jedes Kind wichtig ist, dann muss man stärker auf die Qualität der Kitas achten.
Jahrelang wurden Krippen und Kindergärten nur als bessere Parkplätze für Kinder betrachtet, die Qualitätsdebatte war nur von einzelnen Stimmen gefordert worden, sie setzt auch jetzt nur zögerlich ein, weil die negativen Ergebnisse der Krippenoffensive nur langsam ins Bewusstsein sickern. Krippen sind eben nur selten gute Orte der Gefühlskultur. Dabei waren auch vor zwölf Jahren, als eine CDU-Familienministerin die von der SPD geplante Krippenoffensive umsetzte, einzelne Ergebnisse schon bekannt, etwa der permanent erhöhte Stresslevel bei Kindern und die Folgen dieses Dauerstress‘ für die emotionalen Kontrollfunktionen im späteren Leben.
Kinder gelten noch heute als Karrierekiller für Frauen. Da helfen auch keine Quoten. Immer geht es, auch bei der Qualitätsdebatte heute, um die Zeit der Frauen und Mütter. In diesem Sinn werden Möglichkeiten erörtert, wie man den Effizienzkult vom Betrieb ins Zuhause übertragen kann. Begriffe wie „quality time“ sprechen Bände. Als ob das Kind seine Fragen aufheben, um sie am Abend zu stellen, wenn Mamma nach einem gefüllten und anstrengenden Arbeitstag ihre quality time für das Kind auf der Agenda hat. Das Kind hat keine Agenda, es fragt spontan. Und wenn die Mutter nicht da ist, antwortet jemand anders und vielleicht in einem Sinn, der der Mutter nicht gefällt. Auch das gilt es zu bedenken: Ist die Kita geistig auf derselben Wellenlänge wie die Eltern?
Die Ampel ist eine Handreichung für Eltern, die selber die Qualität ihrer jetzigen oder einer künftigen Kita prüfen wollen. Deshalb sind die Fragen auch mit Antworten versehen. Zum Beispiel, dass Kinder frühestens mit 24 Monaten in die Kinderkrippe und dann auch nur halbtags gehen sollen. Ideal wären 36 Monate. Der Kinderkrippenbeginn mit 18 Monaten liegt im gelben, also bedenklichen Bereich. Eine Kinderkrippe aber, die Kinder schon ab dem 6. oder 12. Monat nimmt, ist per se eine schlechte Kinderkrippe, da sie die kleinen Kinder einem sehr hohen Risiko aussetzt, auch wenn sie sonst hohen Qualitätskriterien genügt. Gleiches gilt für eine Kinderkrippe, die bis 19 Uhr geöffnet hat und Kinder ab 7.30 Uhr aufnimmt, ohne deren Aufenthaltsdauer auf 4 (max. 5) Stunden zu begrenzen. Denn sobald auch nur ein Kriterium im roten Bereich liegt, muss die Kinderkrippe als schlecht bezeichnet werden. Es gilt der Ampelgrundsatz: Der rote Bereich ist mit einem großen Risiko der Schädigung verbunden. Die Autoren bemerken: „Man mag sich wundern, dass es so viele Knock-out-Kriterien für Kinderkrippen gibt. Aber wenn man die jeweiligen Folgen für das Kind bedenkt, so kann man nicht anders entscheiden.“
Viele Träger von Kinderkrippen wehren sich gegen solche Einstufungen, nicht nur die privaten oder kirchlichen. Letztlich liegt die Entscheidung bei den Eltern. Den Entwicklern der Krippenampel liegt viel daran, die Eltern hier nicht zu beunruhigen. So weisen sie darauf hin, „dass nicht jeder Qualitätsmangel zu einer großen und irreversiblen Schädigung des Kindes führt. Manche Kinder sind so anpassungsfähig, dass sie auch ungünstige Bedingungen durchstehen, ohne einen bleibenden Schaden zu erleiden.“ Die Forschung sagt meist nur, dass der Prozentsatz zum Beispiel aggressiver und konzentrationsgestörter Kinder bei Kinderkrippenbesuch größer ist als bei Kindern, die in den ersten drei Lebensjahren in der Familie bleiben. Diese Prozentzahlen müssen nicht groß sein, es zählt, wie immer bei menschlichem Verhalten und Persönlichkeitsentwicklungen, der Einzelfall.