Ohne Metaphysik geht es in der Philosophie nicht. Darüber war man sich bei der langen Hegel-Nacht im Deutschen Literaturarchiv in Marbach einig. Hegel wäre am 27. August 250 Jahre alt geworden und so nutzte das Literaturarchiv die Gelegenheit, an einen der wichtigsten deutschen Philosophen zu erinnern. Zwei Autoren aktueller Hegel-Biographien waren eingeladen, darunter Klaus Vieweg („Hegel – Der Philosoph der Freiheit“, 2019), Professor für Philosophie an der Universität Jena, einer der führenden Hegel-Experten. Er vertrat mit Verve, dass sich nun nach mehr als 250 Jahren allmählich die Einsicht unter Philosophen durchsetze, dass eine Metaphysik unverzichtbar sei. Die Rede vom nachmetaphysischen Zeitalter, er meinte wohl Habermas und Gleichgesinnte, sei dagegen völlig verfehlt.
Seine Metaphysik hat Hegel in der „Wissenschaft der Logik“ dargestellt, ein Buch, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts der englische Philosoph Bertrand Russell ablehnte, weil er mit dieser „Logik“ in seiner mathematisch-naturwissenschaftlichen Einstellung nichts anfangen konnte. Das hat in der angelsächsischen Welt bis heute nachgewirkt – allerdings machen in Amerika Studenten längst Druck auf die Professoren, nicht mehr länger im Schneckenhaus ihrer analytischen Philosophie zu bleiben, sondern sich der deutschen Philosophie zu öffnen.
Hegel: Der Mensch kann auch Wahres denken
Vieweg hat deutlich gemacht, dass seit dem Tod Hegels 1831 keine vergleichbaren Gedanken mehr aufgekommen seien – Hegel habe auch Entscheidendes für den Sozialstaat, für das Recht im Grundgesetz, den modernen Freiheitsbegriff, das Verständnis des freien Marktes getan. Auf dem Podium fragte Publizist Udo Tietz, ob das Absolute als Standpunkt der Metaphysik heute überhaupt noch möglich sei. Natürlich meinte Vieweg, das Absolute sei nach Hegel einer katastrophalen Interpretation ausgeliefert. Hegel sehe den Menschen nicht nur als endliches Wesen, sondern als endlich/unendliches, das auch Wahres denken könne – eine Tatsache, die heutige „nachmetaphysische Denker“ ablehnen. Im Gespräch machte Vieweg auch deutlich, wie Hegel immer wieder Aktuelles aus der Wissenschaft in seine Philosophie integriert hat. Dass er ein Faible für Rossini und Mozart gehabt habe und Beethoven trotz des selben Geburtsjahrs namentlich nicht erwähnt hat, hänge mit Hegels Vorliebe für die Oper als damals neuer Kunstform zusammen – und das für ihn wichtigste Instrument sei die menschliche Stimme gewesen. Zu Hegels Zuhörern in den Ästhetik-Vorlesungen gehörte Felix Mendelssohn-Bartholdy, aber die internationale Suche nach seiner Vorlesungsmitschrift sei bisher erfolglos geblieben.
Die Gedanken waren stärker als der Denker
Auf das Musikalische in der Sprache Hegels hat auch der per Skype zugeschaltete Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge hingewiesen. Kluge, der selbst Kirchenmusik studiert hat, sieht bei Hegel nicht nur einen Rhythmus in der Gedankenbewegung, sondern auch im Sprachfluss – gleich dem Fluchttier Pferd sei Hegel von seinen Gedanken mitgerissen worden; dass die Gedanken stärker als der Denker waren, sei auch im sinnlichen Schwung seiner Sprache spürbar.
Ein Höhepunkt des Abends war auch die Führung in das Innere des Literaturarchivs durch dessen Leiter, Ulrich von Bülow. Neben Handschriften von Nietzsche, Heidegger oder Hannah Arendt zeigte er auch Originalmanuskripte des marxistischen Philosophen Ernst Bloch. In einer Handschrift des „Prinzips Hoffnung“ konnten erstaunte Besucher sehen, wie Bloch im Auftrag des Suhrkamp Verlags die Stellen durch harmlose Formulierungen ersetzte, an denen Bloch seine Begeisterung für Stalin zeigte. Denn das war nach dem XX. Parteitag der KPdSU, bei dem die Verbrechen Stalins bekannt wurden, nicht mehr verkäuflich. Ob man das heute auch noch so ändern würde?
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