Herr Franssens, die Zeiten, in denen neue Musik atonal und experimentell klingen musste, scheinen vorbei zu sein. Komponisten wie Sie bringen mit ihren Werken wieder Harmonie und Melodien in die Konzertsäle. Wie kam es zu diesem Wechsel? Dabei hat doch die alte Avantgarde auch bei Ihrer Ausbildung eine Rolle gespielt, oder?
Das hat sie, aber nicht unbedingt eine Positive. Ich fühlte mich von der modernen Musik nämlich nie besonders angezogen. Ich bin mit Beethoven, Bach, Mozart, Schubert und Brahms aufgewachsen. Ich habe auch nie die Faszination verstanden, die andere Menschen für diese Art von moderner Musik empfinden. Was den Wechsel, die Veränderung betrifft: Das ist schwer zu beschreiben. Manchmal liegen die Veränderungen einfach in der Luft. Das ist der Zeitgeist. Als ich ein Teenager war, in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, mochte ich besonders die symphonisch-progressive Rockband „Yes“, die ich bis heute gern höre. Das war etwas Neues, eine musikalische Entwicklung, eine Renaissance der Renaissance, die sozusagen im Makrokosmos stattfand und sich auch auf der persönlichen Ebene, im Mikrokosmos widerspiegelte. Ich bin sicher, wenn ich 50 Jahre früher oder 50 Jahre später geboren wäre, wäre ich ein ganz anderer Komponist geworden. Man ist immer auch das Kind seiner Zeit.
Ihre Arbeit wird, so wie die Ihrer internationalen Kollegen, oft mit dem Begriff „Neue Spiritualität“ bezeichnet. Mögen Sie dieses Label?
Vor 20 Jahren, als dieses Label auftauchte, habe ich meine Musik stets so bezeichnet: „Neue Spiritualität – solange ein besserer Begriff fehlt“ (lacht). Nun, tatsächlich ist nie etwas Besseres aufgetaucht.
Was verbinden Sie denn persönlich mit dem Begriff Spiritualität?
Spiritualität ist auf keinen Fall für eine bestimmte Art von Musik reserviert. Der Begriff darf nicht eingegrenzt sein auf einen bestimmten Zeitraum oder einen bestimmten Stil. Bei Spiritualität geht es schließlich um eine Musik, die mit der Seele verbunden ist. Wenn Sie sich die Musikgeschichte anschauen, stellen Sie fest, dass die Musik bis zu den Lebzeiten von Johann Sebastian Bach allein dem Ruhm Gottes diente. Bachs Musik ist selbstverständlich eine Hochform spiritueller Musik. Mit Mozart wird die Musik menschlicher, bodenständiger und das Ego gewinnt an Bedeutung; Beethoven komponierte die „Eroica“ für Napoleon, und dann tauchte im 19. Jahrhundert jemand wie Richard Wagner auf, dessen Musik sich aus meiner Sicht nur um das Ego dreht. Im 20. Jahrhundert wird die Musik immer abstrakter und zu einer Sache des Verstandes. Virtuos vielleicht, im sportlichen Sinne, aber eigentlich unmenschlich. Ohne Gefühl. Etwas rein Äußerliches.
Aber ist die Musik von Bach nicht auch virtuos?
Natürlich geht es auch bei ihm um das Handwerkliche auf hohem Niveau, aber seine musikalischen Mittel sind niemals übertrieben eingesetzt. Er ist immer, im Unterschied etwa zu Liszt, ausgewogen.
Bach ist Ihr großes Vorbild?
Unbedingt. Ich hoffe, dass meine Musik, auch die schwierigen Teile meines Klavierkonzerts, diese Ausgewogenheit im Sinne Bachs aufweist. Er ist immer in Harmonie mit den Dingen, die er behandelt. Ich habe von Bach gelernt, wie man spricht.
Ihre Musik wirkt etwas langsamer, ruhiger, vielleicht sogar stiller …
Ich weiß, dass es für manche Chöre nicht einfach ist, diese Langsamkeit umzusetzen. Schließlich muss man dabei eine Form finden, welche die Schönheit des Klangs zum Ausdruck bringt. Und der Klang sollte vollkommen sein.
Nun ist Langsamkeit nicht gerade das Kennzeichen unserer Zeit. Wie schaffen Sie es, im digitalen Zeitalter als Komponist zu überleben?
Das ist eine einfach zu beantwortende Frage: Ich schalte das Smartphone aus! (lacht) Ich habe schon früh als Teenager gelernt, mich ein wenig von der Masse fernzuhalten. Wenn ich dies nicht tun würde, könnte ich mein Innerstes, mein Selbst verlieren. Das aber ist für mich als Person und Komponist essenziell. Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, wie wichtig es ist, der eigenen Spur zu folgen. Mein Weg führt mich oft in den Wald, ans Meer oder außerhalb Hollands in die Berge. Das hilft mir, zu überleben. Die Natur fasziniert mich in ihrer Einfachheit.
Kurioserweise ist Ihr Opus Magnum, „The Harmony of the Spheres“, was die Klickzahlen betrifft, das erfolgreichste Werk eines lebenden niederländischen Komponisten bei „Youtube“. Wie komponiert man ein solches Werk, einen solchen Zyklus?
Es begann 1994 mit einem Wettbewerb für das Hilliard-Ensemble, an dem ich teilnehmen wollte, weil ich dieses Ensemble sehr mochte. Aber dann starb unerwartet eine Person aus meinem nächsten Umfeld, was mich und meine Stimmung so stark beeinflusste, dass ich anfing, ein Chorstück zu schreiben, das ich „The Harmony of the Spheres“ nannte. Dies war der erste Teil des Zyklus, den ich in drei Wochen komponiert habe. Und ich dachte eigentlich, dass dies genüge. Als dann aber das erste Chorstück von „Harmony of the Spheres“ zum ersten Mal aufgeführt wurde – in einer Kirche mit sehr guter Akustik – hatte ich, als die letzten Klängen verhallten, den Eindruck: Das ist nicht das Ende, das ist nur der Anfang. Ich fing an, ein zweites Chorstück zu schreiben. Dann folgte ein dritter Teil und schließlich kam mir der Gedanke, dass all diese Chorstücke nicht getrennt seien, sondern zu einem Ganzen gehörten. Schließlich kamen auch noch Texte von Spinoza dazu. Im Laufe von sieben Jahren fand allmählich alles seinen Platz.
Dabei wirkt das Werk so organisch, geradezu wie aus einem Guss ...
Das höre ich oft von Hörern, die das Werk sehr schätzen. Viele empfinden es als eine große, zusammenhängende Reise. Das ist ein schönes Kompliment für mich, doch die Wahrheit ist: Der kreative Prozess bestand aus vielen Schichten und Abschnitten, aus vielen Fehlern und Fallen, aus Zweifeln und falschen Pfaden. Erst am Ende steigt der Phönix empor und aus all diesen Schwierigkeiten erscheint etwas Schönes. So arbeite und komponiere ich.
Weltweit gab es 125 Aufführungen von „Harmony of the Spheres“ in Teilen, aber der ganze Zyklus ist bisher nur selten aufgeführt worden …
Dreimal. Im Jahr seiner Premiere 2002 in Rotterdam, im Jahr 2011 zweimal in Amsterdam und in Utrecht.
Was auf katholische Hörer Ihrer Werke „Sanctus“ (1996) und „Magnificat“ (1999) etwas überraschend wirkt, ist der Umstand, dass das „Sanctus“ keinen Text hat, während das „Magnificat“ auf Worten von Fernando Pessoa basiert …
Ich habe diesen zwei Stücken einen sichtbaren christlichen Titel gegeben, auch wenn sich die Stücke nicht direkt auf die christlichen Wurzeln beziehen. Meint „Sanctus“ nicht nur das Heilige, das in der Liturgie im Mittelpunkt steht, es ist weiter gefasst. Und das „Magnificat“ ist nicht das Loblied Mariens, sondern ein Loblied, das auch die Natur preist. Ich wurde als Katholik mit einer sehr freien Einstellung erzogen, ohne dogmatische Enge. Was mir geholfen hat, meinen eigenen Instinkten zu folgen, eigene Bilder zu kreieren. Gott habe ich schon früh als die Liebe verstanden. Ich bin davon überzeugt, dass man auch in anderen Religionen Heiligkeit erfahren kann – das wollte ich mit „Sanctus“ ausdrücken.
Wie ist das eigentlich in Holland mit der Religiosität? Was glauben ihre musikalisch interessierten Landsleute?
Ich denke nicht nur in Holland, sondern in ganz Westeuropa geraten manche Musikliebhaber regelmäßig in eine Art religiöse Identitätskrise. In Holland zum Beispiel ist Bachs Matthäus-Passion sehr beliebt. Was machen nun die Leute, die christlich erzogen wurden, sich dann von der Kirche und dem Christentum entfernt haben und schließlich, wenn sie Bach hören, dabei ertappen, dass sie gerade eine Art religiöse Erfahrung erleben? Bach hat die Matthäus-Passion schließlich komponiert, um den Menschen die Auferstehung Christi näherzubringen.
Was macht diese Musik mit Ihnen?
Ich trenne zwischen religiösem Erlebnis und religiöser Tradition. Ich habe die Matthäus-Passion schon als Kind im Chor gesungen. Für die Streicher im dritten Teil von „Harmony of the Spheres“ habe ich mich bewusst entschieden, weil in der Matthäus-Passion Christus immer von Streichern begleitet wird. Die Streicher symbolisieren also die göttliche Erscheinung.
Könnten Sie sich vorstellen, auch einmal eine Passion, ein Oratorium oder eine Messe zu komponieren?
Ein befreundeter Pianist, Ralph van Raat, hat mir vor zwölf Jahren gesagt, ich solle doch mal ein Klavierkonzert komponieren. Meine Antwort damals lautete: Niemals, absolut niemals. Nun – schließlich habe ich es doch gemacht, weil ich meinen eigenen Zugang gefunden habe. Das musste auch sein, denn das Repertoire ist bereits sehr groß. Ich sage deshalb nicht 100-prozentig Nein zu Ihrer Frage. Ich möchte aber eigentlich keinen biblischen Text mit meiner Musik in Verbindung bringen, weil dies bereits so oft durch andere Komponisten geschehen ist. Ich denke, meine Aufgabe ist es, das Licht auf andere Weise zu verbreiten.
Hintergrund
Besonders sein Zyklus „The Harmony of the Spheres“ (Sphärenharmonie), der zwischen 1994 und 2001 entstand, ist aus dem Repertoire zeitgenössischer Musik nicht mehr wegzudenken. Doch Joep Franssens, der 1955 in Groningen zur Welt kam, kann ein breites, vielschichtiges OEuvre vorweisen. Franssens, der zunächst ein Kompositionsstudium bei Louis Andriessen am Königlichen Konservatorium in Den Haag absolvierte und dann am Rotterdams Conservatorium bei Klaas de Vries ausgebildet wurde, ist längst mehr als nur ein niederländischer Komponist. Mit vielen internationalen Chören, darunter den BBC Singers und dem finnischen Radio-Kammerchor hat Franssens, der perfekt Englisch und Deutsch spricht, kooperiert. In seiner Heimat wurden ihm zahlreiche Aufträge und Würdigungen zuteil, unter anderem „Het Gouden Viooltje“ (Die Goldene Violine). DT/mee
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