Die süditalienische Stadt Matera ist insbesondere wegen der Höhlensiedlungen („Sassi“) bekannt, aus denen die Altstadt größtenteils besteht, und die sich als Filmkulisse hervorragend eignen. Hier drehte beispielsweise Pier Paolo Pasolini seinen Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ (1964). Auch die meisten Außenszenen in Mel Gibsons „Die Passion Christi“ (2004) entstanden in Matera.
Wegen der Ähnlichkeit mit Jerusalem kann in Matera „in einem Quadratkilometer ein ganzer Jesusfilm entstehen“, stellt zu Beginn seines Films „Das neue Evangelium“ der Schweizer Regisseur Milo Rau fest. Zu seinem Film führt Milo Rau aus: „Als klar war, dass das süditalienische Matera zur ,Kulturhauptstadt Europas 2019‘ ernannt wird, wurde ich gebeten, dort etwas zu inszenieren. Ich hatte sofort ein Konzept im Kopf: einen neuen Jesus-Film, der die starke kinematografische Tradition der Region mit ihrer heutigen Realität mischt.“ Die filmgeschichtliche Tradition Materas schlägt sich in Milo Raus „Das neue Evangelium“ nicht nur in eindrucksvollen Bildern der Stadt nieder.
Wiedererkennungswert: Stars aus anderen Jesusfilmen
Darüber hinaus besetzte der Schweizer Regisseur einige Rollen mit Darstellern aus den Filmen von Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson: Maia Morgenstern spielt – wie bereits bei Mel Gibson – die Gottesmutter Maria. Und der Mitte September verstorbene Enrique Irazoqui, der bei Pasolini Jesus dargestellt hatte, verkörpert in seiner letzten Filmrolle Johannes den Täufer. Als Berufsschauspieler übernimmt der 2018 in Cannes als bester Schauspieler ausgezeichnete Marcello Fonte die Rolle des Pontius Pilatus. Der Rest des Ensembles setzt sich aus Laiendarstellern zusammen: Zu den Einwohnern von Matera – der damalige, im Oktober 2020 abgewählte Bürgermeister Raffaello De Ruggieri verkörpert Simon von Cyrene – kommen Aktivisten, Landarbeiter und Migranten hinzu. Dies gehört wohl auch zur laut Milo Rau „neuen Realität“.
Denn auch in Matera existierte zu Beginn der Dreharbeiten ein Flüchtlingslager, in dem aus Afrika eingewanderte Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen hausten, und auf ihre „Papiere“ warteten. Währenddessen arbeiteten sie meist unter ausbeuterischen Bedingungen in der Landwirtschaft. Deshalb kommt nach Matera auch der „Aktivist in der Agrarindustrie“ Yvan Sagnet, der nicht nur die Hauptrolle Jesus in Milo Raus Film übernehmen soll, sondern auch eine Revolte losbrechen will, die Rivolta della Dignita („Rebellion der Würde“).
„Seelenheil zum Sozialheil“
Formal nimmt sich „Das neue Evangelium“ deshalb als eine „Verschmelzung von Dokumentarfilm, Spielfilm, politischer Aktionskunst und Passionsspiel“ aus. Der Regisseur verknüpft immer wieder die Proben und Dreharbeiten zu einem Jesus-Film mit dem Leben der Migranten und insbesondere mit deren „Revolte der Würde“ miteinander. Dazu kommen Zitate aus der Heiligen Schrift als Off-Stimme, wobei ein Zitat wie „Das Elend seines Volkes“ dann eine ganz sozialkritische Note erhält, sowie die klassisch-getragene Musik und Off-Stimme von Vinicio Capossela.
Inhaltlich spitzt Milo Rau den von Pier Paolo Pasolini in den Vordergrund gestellten sozialen Aspekt des Evangeliums im Sinne einer Art Befreiungstheologie zu. So sagt selbst Rau zum Film: „Wir wollen auf die soziale Revolution verweisen, für die Jesus steht.“ Und Aktivist und Jesus-Darsteller Yvan Sagnet fügt hinzu: „Unser Projekt ist etwas, das weit über die Religion hinausgeht.“ Um ein Wort des emeritierten Bamberger Erzbischofs Karl Braun aufzugreifen (Interview in DT vom 19. November): Milo Raus Film reduziert das „Seelenheil zum Sozialheil“.
Die Aufforderung zur Umkehr wird unterschlagen
Deutlich wird dies im Film beispielsweise bei der Szene mit der frisch ertappten Ehebrecherin: Sie endet mit den Worten Jesu „Siehst Du, keiner verurteilt Dich“. Die Schlussfolgerung „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“, fehlt jedoch.
Laut Milo Rau habe sich sein Film auf die Wirklichkeit ausgewirkt: „Rund um Matera wurden infolge der ,Revolte der Würde‘ die ersten ,Häuser der Würde‘ gegründet: Häuser, in denen die zuvor obdachlosen Statisten des Films nun in Würde und Selbstbestimmtheit leben können. Und das mit Unterstützung der katholischen Kirche!“ Der Verleih bezeichnet den Film als „ein Manifest für die Opfer des westlichen Kapitalismus, das angesichts der europäischen Flüchtlingskrise und der weltweiten Black-Lives-Matter-Bewegung aktueller nicht sein könnte“. Weil der Film Erlösung auf rein soziologische Kategorien reduziert, hinterlässt er allerdings einen schalen Nachgeschmack.
„Das neue Evangelium“ startet am 17. Dezember digital und mit direkter Beteiligung eines Kinos. Beim Erwerb der Kinokarte (https://dasneueevangelium.de) über 9,99 EUR wählt der Zuschauer ein Kino aus, das er am Erlös beteiligen möchte, das dann 30 Prozent des Preises erhält.
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