Noch vor einem halben Jahr schien Netflix den deutschen Streaming-Markt unangefochten zu beherrschen, auch deshalb weil hierzulande auf die Inhalte der ärgsten Netflix-Konkurrenz in den Vereinigten Staaten „HBO“ nicht zugegriffen werden kann. Gegen den Mitwettbewerber Amazon Prime Video konnte Netflix insbesondere mit Eigenproduktionen wie „House of Cards“, „Stranger Things“ und „The Crown“ bestehen.
Einen ersten Dämpfer erlitt der Streaming-Riese, der weltweit rund 160 Millionen Abonnenten hatte, im ersten Quartal 2019, als das Unternehmen in den Vereinigten Staaten 130 000 Kunden verlor. International konnte es außerdem weit weniger neue Bezahlabonnements verbuchen, als vorgesehen: Statt fünf Millionen neue Abos „nur“ 2, 7 Millionen. „Das Erfolgsmodell von Netflix bekommt allmählich Risse“, schrieb im April 2019 die „WirtschaftsWoche“. Im vierten Quartal 2019 konnte Netflix jedoch nach eigenen Angaben weltweit rund 8,7 Millionen neue Abonnenten gewinnen, womit das Unternehmen nun 167 Millionen zahlende Mitglieder hat. Am Dienstag gab Netflix bekannt, nunmehr 158 Millionen Abonnenten zu haben. Dabei veröffentlichte die Streaming-Plattform erstmals Zahlen nach Weltregionen. Demnach stagniert gerade der größte Markt Nordamerika. Dieser Trend könnte sich mit den neuen Konkurrenten fortsetzen.
Vier große Streaming-Anbieter
Nach der Einführung von „Apple TV+“ (DT vom 16. Januar) im Dezember 2019 nahm der Streamingdienst „Disney+“ Ende März seinen Betrieb in Deutschland auf. Nun müssen sich vier große Anbieter einen freilich wachsenden Online-Serien- und Film-Kuchen teilen. Bereits vor dem Start von Apple TV+ und Disney+ nutzte jeder Zweite in Deutschland einen Online- Streamingdienst. Laut einer aktuellen McKinsey-Studie geben die Deutschen im Schnitt jährlich 112 Euro für Home-Video-Inhalte aus, doppelt so viel wie vor zehn Jahren. Der große Vorteil von Disney+ gegenüber den anderen Anbietern besteht im beträchtlichen Bestand seiner fünf Sparten Disney, Pixar, Marvel, Star Wars und National Geographic, was auf der anderen Seite einen großen Nachteil gerade für Netflix bedeutet: Die Disney-Filme aus den Jahren 2017 und 2018, die bislang bei Netflix zu sehen waren, können nur noch auf Disney+ abgerufen werden.
Aber auch nach der Einführung von Disney+ kehrt keine Ruhe in den umkämpften Videostreaming-Markt ein. Denn seit dem 6. April ist ein weiterer Wettbewerber online gegangen: „Quibi“ bietet entsprechend seinem Namen – eine Abkürzung für „Quick Bites“ („schnelle Happen“) – Unterhaltung für unterwegs. Die eigens für „Quibi“ entwickelten Serien und Filme haben nur eine Länge von vier bis zehn Minuten; sie passen sich also den Wahrnehmungsspannen der Konsumenten beim mobilen Streaming an, und können nur über eine App auf mobilen Geräten wie Smartphones, iPhone oder iPad gesehen werden. Bis zum Jahresende sollen insgesamt 175 neue Serien starten, die von bekannten Regisseuren wie Steven Spielberg, Guillermo del Toro, Ridley Scott und Antoine Fuqua exklusiv produziert oder inszeniert werden. Dafür haben die Quibi-Gründer Jeffrey Katzenberg, ehemaliger Vorsitzender von Disney und Mitgründer von Dreamworks, und Meg Whitman, ehemalige Präsidentin von Hewlett Packard und eBay, nach eigenen Angaben von Investoren – unter anderem NBC Universal, TimeWarner, Sony, Disney und Viacom – bislang 1,75 Milliarden Dollar erhalten.
Quibi: Serien in Quer- und Hochformat
Eine Besonderheit von „Quibi“: Die Serien können im Quer- und im Hochformat geschaut werden. Katzenberg nennt dies „Turnstyle“ und meint, dass damit Quibi die „dritte Generation der Filmerzählung“ einführe. Allerdings bietet das Hochformat lediglich Nahaufnahmen. Bei den Handlungen – etwa beim Thriller „The Most Dangerous Game“ mit Liam Hemsworth und Christoph Waltz oder bei „#Freerayshawn“ mit Laurence Fishburne und Stephan James – hat man jedoch den Eindruck, dass jeweils ein Film in kleine „Happen“ zerstückelt wurde.
„Disney+“ bietet Familienunterhaltung mit einer Vielzahl an Kinder- und Jugendfilmen. Gerade darin könnte eine Chance für Netflix, Amazon Prime Video und nun auch Quibi bestehen, die mit Dramen, Thrillern und dystopischen Science-Filmen eher auf ein erwachsenes Publikum setzen. Deshalb und wegen der überschaubaren Kosten – 6,99 Euro, Jahres-Abo 69,99 Euro – erweist sich „Disney+“ als eine Ergänzung zu anderen Streamingdiensten. Bei „Quibi“ beträgt der Preis 8,99 Euro, wobei die ersten 90 Tage kostenlos sind. Allerdings ist „Quibi“ bislang lediglich in der englischen Originalversion mit englischen oder (mexikanisch-)spanischen Untertiteln verfügbar. Ob und wann deutsche Untertitel oder eine deutsche Synchronisation dazu kommen, ist zurzeit unbekannt.
Kürzlich gab „Disney+“ bekannt, die Zahl der 50 Millionen Abonnenten erreicht zu haben. In Europa fiel die Einführung von „Disney+“ mit der Coronakrise zusammen. Es kann etwa Eltern in der Zeitgestaltung ihrer Kinder, die den ganzen Tag zu Hause bleiben müssen, Unterstützung bieten. Ob aber die neue Corona-Situation auch für „Quibi“ einen Vorteil bringt, bleibt abzuwarten.
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