Es geht auch anders: Eine Standortvermessung des zeitgenössischen Atheismus nämlich, die ohne Beschimpfung der Religion und der Religiösen auskommt und bemüht ist, durch demonstrative Gesprächsbereitschaft Brücken zu bauen. Dem britischen Philosophen Tim Crane, zurzeit Professor an der Central European University, dem Prestigeprojekt des ungarisch-stämmigen Magnaten George Soros, ist das in seinem glasklar geschriebenen Buch mit dem schnörkellosen Titel „Die Bedeutung des Glaubens“ gelungen.
„In Wahrheit haben wir gar keine echte
Debatte, sondern lediglich Leute, die aneinander
vorbeireden oder sich anschreien“
Tim Crane
Crane fällt eine gewisse Stagnation in der Debatte zwischen Gläubigen und den Vertretern des „Neuen Atheismus“ auf, zu denen unter anderen der verstorbene Christopher Hitchens und Richard Dawkins gehören: „Die Neuen Atheisten ziehen ein Argument nach dem anderen gegen die Religion aus dem Hut, und die Religiösen lässt das ebenso kalt wie die neuen Atheisten jedwede Verteidigung der Religion. In Wahrheit haben wir gar keine echte Debatte, sondern lediglich Leute, die aneinander vorbeireden oder sich anschreien.“
Crane will dieser Falle entgehen, indem er sich von vornherein nicht mit der Wahrheit religiöser Überzeugungen beschäftigen will, sondern mit deren Bedeutung. Sein Ansatz ist, dass Religion sich auf zwei Ebenen abspielt: der des „religiösen Impulses“, „worunter ich einen Sinn fürs Transzendente verstehe, dafür, dass ,all das hier noch nicht alles gewesen sein kann‘“. Als zweite Bedeutungsebene nennt er die „Identifikation“, „was so viel meint wie: sich einer historischen Tradition zugehörig fühlen und sie zum Ausdruck zu bringen, indem man ihre Rituale und Gebräuche verwendet, um sich die Welt zu erschließen... Die Verbindung zwischen diesen beiden Einstellungen wird durch die Idee des Heiligen gestiftet.“ Seinen eigenen Glaubensgenossen hält der Brite vor, „die Religion entweder als eine Art primitive Kosmologie zu präsentieren – als eine unterentwickelte oder protowissenschaftliche Theorie des ganzen Universums – oder als einen schlichten Moralkodex oder als eine Kombination aus beidem“.
Crane ist sich sicher: „Es wird uns nicht gelingen, dieses so grundlegende menschliche Phänomen zu verstehen, wenn wir versuchen, es in diese vorgefertigten Schubladen zu pressen.“ Also wählt er eine offenere Definition des Phänomens und nennt vier Eckpunkte von Religion: Sie habe etwas Systematisches, etwas Praktisches, sei der Versuch einer Sinnfindung und rekurriere auf das Transzendente. Den Unterschied zwischen Atheismus und dem neuen Humanismus erklärend, weist Crane darauf hin, dass dieser über bloße Gottesleugnung hinausgehe. Er bleibt aber recht vage, wenn er dem Humanismus ein Bedürfnis nach einer „spezifischen moralischen Perspektive“ und nach einem „Gefühl von Gemeinschaft“ unterstellt. Kurz gesagt gehe es um ein System von Werten und Praktiken, „das die entsprechenden religiösen Systeme zu ersetzen vermag“. Religion für Religionslose, könnte man pointiert formulieren.
Der pessimistische und der optimistische Atheist
Noch eine weitere Differenzierung ist dem Autor wichtig: Die Atheisten teilt er in Optimisten und Pessimisten – zu Letzteren rechnet er sich selber – ein. „Der Pessimist räumt ein, dass Moralität in einer Weise Sinn ergeben würde, in der es sie derzeit nicht tut, falls Gott existierte; aber weil Gott eben nicht existiert, müssen wir die Moral auf eine andere Weise verstehen. Der Optimist ist der Auffassung, dass sich an der Sinnhaftigkeit der Moral rein gar nichts ändern würde, falls Gott existierte, ... weil Moral nicht in Begriffen des Sich-Unterwerfens unter die Befehlsgewalt eines anderen Wesens gerechtfertigt werden kann.“ Das scheinen doch recht verschiedene Positionen zu sein, wenn der Pessimist anerkennt, „dass die Welt irgendeine signifikante Bedeutung hätte, wenn Gott existierte“. Der Optimist weise sogar die bloße Möglichkeit, dass Gottes Existenz der Welt Bedeutung verleihen könnte, zurück. Von hier ist es nicht weit zur klassischen atheistischen These, wonach Religion eine Art Vorspiegelung oder Täuschung sei, von Menschen erfunden, die „sich nicht mit dem Tod beziehungsweise der unausweichlichen Kontingenz von allem abzufinden“ bereit seien.
Anders Crane, der über die Grund-These, dass es ein Mysterium gibt und dass das Wesen der Dinge letztlich nicht zu ergründen sei, jedenfalls nicht so herfällt wie manche seiner Kollegen, die, rein naturwissenschaftlich (oder was sie dafür halten) denkend, schon die Fragestellung für Nonsens erklären. Mit einem gewissen Staunen nimmt der Autor zur Kenntnis, dass das vielfach vorausgesagte Absterben der Religion in der Moderne so nicht stattgefunden hat. Im Gegenteil: „Es betrachten sich sechs der gut sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten als Angehörige einer Religion.“ Was Crane zu der Schlussfolgerung bringt: „Religion ist unausweichlich.“ Er geht so weit zu sagen, „dass die Hauptkräfte hinter den Ereignissen in der Welt die Religion und die Nation sind, nicht Grundsätze des Staatseigentums und der Wirtschaft“. Von daher sein Appell, zwar Intoleranz auf Seiten der Religionen aufzuzeigen und anzuprangern, aber dessen ungeachtet zu einer neuen Haltung gegenüber diesem offenkundig nicht auszutilgenden Phänomen zu finden. Dazu gehöre, dass die atheistische Seite aufhöre, für alles, was in der Welt schlecht geordnet ist oder schiefläuft, die Religion verantwortlich zu machen, „in der Hoffnung, damit so viel wie möglich davon zum Verschwinden zu bringen“. Seine realistische Haltung hat man so von Seiten der kämpferischen Gottesleugner noch nicht gehört: „Es ist nicht der Fall, dass die schlimmsten Gräueltaten der Menschheitsgeschichte auf das Konto der Religion gehen, aber sie ist in verschiedenen und komplizierten Hinsichten verantwortlich für jede Menge Unheil und Elend.“
„Der erste Schritt in diese Richtung muss
darin bestehen, dass jede Seite ein angemessenes
Verständnis von der Sichtweise des Gegenübers entwickelt“
Tim Crane
Für diese offenere Haltung ist allerdings ein Preis zu bezahlen, wie man eher nebenbei im Buch erfährt. Es gehe, meint der Autor unter Rückgriff auf einen anderen britischen Denker, um eine Toleranz, deren Ziel nicht Wahrheit, sondern Wahrung des Friedens sei. Das ist wahrlich nicht geringzuschätzen, wird allerdings die Pilatus-Frage „Was ist Wahrheit?“ nicht aus der Welt schaffen. Doch ist Tim Crane in seiner diskussionsbereiten Haltung zuzustimmen, wenn er dazu aufruft, einen „echten Dialog“ in Gang zu bringen: „Der erste Schritt in diese Richtung muss darin bestehen, dass jede Seite ein angemessenes Verständnis von der Sichtweise des Gegenübers entwickelt.“ Mit seinem Buch, das sich im Ganzen mehr an seine eigenen ungläubigen Parteigänger richtet, hat er den ersten Schritt getan.
Tim Crane: Die Bedeutung des Glaubens – Religion aus der Sicht eines Atheisten. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2019, 188 Seiten, ISBN 978-3-518-58739-3, EUR 22,–
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