Literaturgeschichte

Mit dem Blick des Chirurgen das Geschehen beschreiben

Gustave Flaubert, einer der Paten des modernen Romans, wurde vor 200 Jahren geboren
Badeort Trouville-sur-Mer in der Normandie erinnert mit einem Hotel an den Aufenthalt Flauberts 1836
Foto: ar | Der Badeort Trouville-sur-Mer in der Normandie erinnert mit einem Hotel an den Aufenthalt Flauberts 1836.

Gustave Flaubert (1821–1880) ist einer der Erzväter der französischen Romanliteratur und zugleich das Musterbeispiel eines französischen Intellektuellen, stets bestrebt, sich an der öffentlichen Diskussion zu beteiligen und keiner literarisch-politische Fehde aus dem Weg zu gehen. In Erinnerung behalten muss man ihn als genauen Stilisten, der in seinen Sujets stets nur seine pessimistische Weltauffassung zum Ausdruck bringen wollte, fern von jeder gesellschaftlichen Moralvorstellung. Zu seinem 200. Geburtstag widmet ihm der französische Historiker Michel Winock, Spezialist für das 19. Jahrhundert im Nachbarland, eine umfassende, auch das Zeitalter erschöpfend behandelnde Biographie. Er bewundert den aus dem normannischen Rouen stammenden Autor und weiß um seine Schwächen.

„Flaubert ist ein genauer Beobachter des menschlichen Hoch- und Kleinmutes,
der geheimen Antriebe hinter dem Verhalten seiner Protagonisten, darüber will er schreiben“

Flaubert ist Spross des wohlhabenden Provinz-Bürgertums. Mit einem Chefarzt als Vater und neben dem städtischen Krankenhaus wohnend, erlebt er schon als Junge die Dramen und Triumphe der menschlichen Existenz. Eine erste Liebe zu einer verheirateten Frau, die ihm unerreichbar blieb, inspiriert ihn zu einem ganzen Gedankengebäude an erotischen Kombinationen und Konstellationen und lässt ihn, der lustlos ein Jura-Studium begonnen hatte, seine eigentliche Profession erkennen: Flaubert ist ein genauer Beobachter des menschlichen Hoch- und Kleinmutes, der geheimen Antriebe hinter dem Verhalten seiner Protagonisten, darüber will er schreiben. Doch ist er selber auch sein größter Kritiker und es wird lange dauern, bis 1856 „Madame Bovary“ herauskommt. Dieser erste Roman ist zugleich ein Skandal und ein Erfolg, macht seinen Autor schlagartig bekannt.

Ein Prozess wegen Verstoß gegen die Sittlichkeit wird von einem geschickten Anwalt zum Testfall der Kunstfreiheit gemacht, nützt dem Autor am Ende. Mit dem Porträt des Liebeslebens einer Arztgattin – einem tatsächlich vorgekommenen Fall nachgebildet, den Flaubert der Zeitung entnahm – hat der Schriftsteller nicht nur im ersten Wurf einen Welterfolg vorgelegt. Er bewies damit auch, dass seine Herangehensweise, nicht idealisierte Personen, sondern Durchschnittsmenschen zu Protagonisten zu machen, nicht auf Melodramatik, sondern auf den nüchternen Ablauf des Geschehens zu setzen, die Leser zu fesseln verstand. Der realistische Roman war geboren, freilich vorbereitet durch Stendhal und Balzac, die ähnlich abgeklärt auf die Welt blickten. Die Arztfrau Emma Bovary, die aus enttäuschter Hoffnung auf ein sie erfüllendes Eheleben und aus purem Ennui nacheinander zwei Liebhaber hat und am Ende Selbstmord begeht, war eine „Heldin“ neuer Art, mit der sich aber offenbar viele identifizieren konnten.

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Flaubert verlor alle Illusionen

Biograph Winock hebt hervor, dass Flaubert schon früh alle Illusionen verloren habe und die Welt als Schauspiel betrachtete, das er schilderte, aber nicht bewertete: „Hinter den laut proklamierten großen Idealen spürt er die Eitelkeit, Unaufrichtigkeit, Leere und Verderbtheit auf. In der Religion sieht er keinerlei Rettung“, weil er nicht glauben kann, dass der mit Dreck befleckte menschliche Körper etwas Immaterielles und Reines in sich haben könne. „Die ,metaphysische Zukunft‘... hält er für Betrug. Also muss man über die Nichtigkeit und das Absurde lachen können!“ Priester sind dem Schriftsteller Witzfiguren, sein Leben lang wird er das, was er als Klerikalismus ansieht, erbittert bekämpfen.

In Frankreich scheiden sich – bis zum heutigen Tag – an der Religion die Geister der Literaten: Neben den tief oder verzweifelt Frommen vom Schlag eines Léon Bloy gab und gibt es die Libertins, unter die sich Flaubert einreihen lässt. Tatsächlich steht dieser aber dem antibürgerlichen Affekt eines guten Teils der Autoren des späteren Renouveau Catholique durchaus nicht fern, denn Spießertum und Besitzstands-Denken hasst Flaubert wie die Pest und geißelt sie unermüdlich. Nie wird er sich als Lohnschreiber für eine Zeitung oder Zeitschrift verdingen, während er gleichzeitig großherzig anderen aushilft. Die Unermüdlichkeit, mit der Flaubert Freundschaften am Leben erhält, seine Unfähigkeit, andere zu hassen, selbst wenn sie schlecht zu ihm sind, gehören zu den angenehmen Seiten seines Charakters, dem der Jähzorn – meist, wenn er sich über Politik erregt – und Maßlosigkeit beim Essen und Trinken nicht fehlen.

Sein kalter Blick auf seine Realität stößt eine Literaturrichtung an

Nach diesem ersten Erfolg, der konservative Literaturkritiker allerdings ratlos zurücklässt, weil Emma Bovary für sie nicht als Vorbild taugt, kann Flaubert eine nicht üppige, aber doch behaglich alimentierte Schriftsteller-Existenz führen und sich Zeit lassen für das nächste Werk. Die „Education sentimentale“ von 1869 kann den Erfolg des Erstlings nicht wiederholen, hat dafür aber einen festen Platz in der Literaturgeschichte. Das Scheitern eines jungen Karrieristen, von Flaubert mitleidlos vorgeführt, ist ein Entwicklungsroman vor dem Hintergrund der Entfaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das der Autor so verabscheute. Im zentralistisch ausgerichteten Frankreich ist es der Traum des Provinzlers, in der Hauptstadt sein Glück zu machen. Doch Frédéric Moreaus Geschichte ist die eines permanenten Scheiterns: Bei vier Frauen kann er nicht landen, politisch mag er sich nicht zwischen Republik und dem Zweiten Kaiserreich Napoleons III. entscheiden.

Er will alles, aber nur ein wenig: Anwalt und Politiker sein oder vielleicht doch Künstler. Nach wenigen Seiten schon ahnt der Leser, dass das ständige Lavieren Frédérics ihm am Ende nichts einbringen wird. Während Goethes „Wilhelm Meister“ sich allmählich mit seinem Leben und der gesellschaftlichen Wirklichkeit arrangiert, lässt Flaubert von seinem Helden, aber auch vom französischen Ringen um die beste Gesellschaftsform wenig übrig. Es geht um Illusionen in beiden Fällen, um De-Konstruktion der Hoffnung. In einer Entwurfsskizze zur „Education“ schrieb Flaubert 1863: „Das Gefühl endet von allein, man trennt sich. Man sieht sich von Zeit zu Zeit wieder, dann stirbt man.“ In dieser Perspektive des kalten Blicks auf die Wirklichkeit steht Flauberts Buch am Anfang der Reihe, die zum Nouveau Roman führen wird, zu Alain Robbe-Grillet und Claude Simon. Literarische Erben sind, wie Winock schreibt, Joyce, Beckett, Kafka, auch Sartre, der Flaubert gar nicht schätzte und ihm dennoch fast viertausend Seiten widmete.

Eine Legende: der Papagei der Magd Félicité 

Wer kann, soll Flaubert auf Französisch lesen. Proust widmete seinem Werk einen Essay, in dem er die souveräne Missachtung der Grammatik durch Flaubert pries und die Genauigkeit des Stils rühmte. Flaubert war ein emsiger Arbeiter, der Stunden und Tage nach dem richtigen Wort suchte. Autor Winock spricht von einem Brüllraum, in dem er sich Sätze immer wieder laut vorlas, um zu kontrollieren, wie die Prosa floss: Der Künstler als Wort-Handwerker. Aber auch als genauer Beobachter der Wirklichkeit, der ausgedehnte Recherchen unternahm, um möglichst exakt Orte und Zustände schildern zu können. Legendär geworden ist der ausgestopfte Papagei, den er sich kommen ließ, weil er in der Erzählung „Ein schlichtes Herz“ von der Magd Félicité und ihrem Papagei Loulou schreiben wollte.

Gleich mehrere tote Vögel wetteifern in französischen Museen darum, dem Meister damals Modell gestanden zu haben. Der britische Schriftsteller Julian Barnes widmete dem Papagei Flauberts einen Roman. Zur Genauigkeit in der Schilderung, zum analytischen Blick tritt die Ästhetik des „schweigenden Schöpfers“ (Winock), der sich im Werk keine persönliche Meinung erlaubt. „Der traditionelle Roman hatte das Ziel, zu belehren, zu erklären, zu beweisen; der Roman a la Flaubert, legt dar, beschreibt und lässt den Leser urteilen.“ Mit Winocks Buch, das Flaubert als Zeitzeugen in die präzise geschilderte Entwicklung Frankreichs hin zur Dritten Republik einbaut, kann der Leser einem der Erfinder des modernen Romans über die Schulter schauen. Winocks distanzierter, doch von Sympathie getragener Blick hätte Flaubert wohl gefallen, der es verdient, als Autor der heraufziehenden Moderne wieder mehr gelesen oder neu entdeckt zu werden.


Michel Winock: Flaubert. Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim.
Carl Hanser Verlag, München, 2021, 655 Seiten, ISBN 978-3-446-26844-9, EUR 36,–

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